Literareon

»Sandkornzauber«

Diese Geschichte von Leah Braekau wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »Zauber« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

braekau BILD Verlag 300x533Px1

Leah Braekau

 

Geleitwort der Jury

Das Wort »Zauber« mag ein einfaches, kurzes sein. Und doch können sich ganze Welten dahinter verbergen. So überrascht es kaum, dass die Beiträge, die uns für unseren Kurzgeschichtenwettbewerb zu dieser Thematik erreichten, so breit gefächert sind wie selten zuvor.

Wie jedes Jahr waren viele Geschichten dabei, die uns berührt haben und die uns zum Schmunzeln oder auch zum Nachdenken gebracht haben. Dies spiegelt sich auch in der Auswahl, die wir Ihnen, lieber Leser, mit diesem Buch an die Hand geben möchten wider:

Die Geschichten sind mal lustig, mal tragisch; ihre Helden mal verzweifelt, mal tapfer. Große Zauberer treten auf, aber auch die Menschen, die in der Lage sind, unser tägliches Leben um magische Momente zu bereichern. Der Zauber erscheint als Macht, die uns voneinander trennen oder uns verbinden kann und die uns vor allem immer wieder staunen lässt.

Also lassen Sie sich – wie es auch uns ergangen ist – von den folgenden magischen Begebenheiten in ihren Bann ziehen.

 

desert 82403 960 720

Sandkornzauber

Es war mitten in der Nacht, als das markerschütternde Geräusch der Sirenen durch die Gassen heulte. Stimmengewirr machte sich breit, Rufe und Schreie. Hecktisch liefen Menschen umher und suchten Schutz. »Sie kommen!«, »Weg hier, bloß weg!«

Von fern her zog der Lärm der Flugzeugmotoren über den Nachthimmel und bewegte sich rasant auf den Stadtkern zu.

Der elfjährige Fabin drängte sich mit seiner Familie in die Küche.

»Sie greifen an«, sagte einer der Erwachsenen mit gedämpfter Stimme.

Diesen Satz bekam Fabin mehrmals am Tag zu hören. Danach folgte Schweigen. Alle lauschten nach draußen, lauschten der Panik, die wie eine Welle über die Stadt schwappte.

»Wo ist Ila?« Fabins Vater trat in die Küche. »Fabin? Wo ist deine Schwester?«

Fabin duckte sich ängstlich. »Ich weiß nicht – vorher war sie noch draußen.«

»Geh sie holen! Aber schnell! Und pass auf sie auf! Sie darf nicht alleine raus, das weißt du!«

Fabin nickte schüchtern und huschte aus der Küche.

Draußen war die Hölle los. Leute liefen umher und rempelten sich gegenseitig an.

»Ila? Ila, wo bist du?« Der Junge stellte sich auf Zehenspitzen und reckte den Hals, doch er konnte die Masse der Menschen nicht überblicken.

»IIIIILAAAA!« Seine Stimme wurde vom Gewirr verschluckt. »IIIII-LAAAA!!!«

Dann fielen die ersten Bomben. Nicht hier, aber doch nahe genug, dass es alle spüren konnten. Der Boden erschütterte unter Fabins Füßen, hinten am Horizont wölbte sich ein Feuerball. Staubwolken stiegen in den Nachthimmel auf, Häuser standen in Flammen, Kinder weinten.

Ila, da war sie! Gott sei Dank! Fabin hatte sie entdeckt und hastete auf sie zu. »Ila! Na endlich! Komm schnell, wir müssen ins Haus.« Fabin fasste seine kleine Schwester bei der Hand und zog sie mit sich. In diesem Moment wurde eine weitere Bombe abgeworfen. Nur ein Knopfdruck eines Kampfpiloten – so viel Leben zerstört. Dicht nebeneinander kauerten sich die Kinder auf den staubigen Boden. Gefühlt war es eine Ewigkeit, in Wahrheit dauerte es nur Sekunden, bis der Stadtteil zerstört war. Ein einziges Trümmerfeld, ein Fleckchen ausgelöschtes Leben auf der Welt. Das Geschrei war weniger geworden, zu viele waren tot. Der Kampfpilot hatte nur seine Arbeit getan. Die Flugzeuge waren jetzt leise zu hören, unschuldig irgendwo in den Lüften, als ob sie nie was Böses wollten.

»Fabin«, wimmerte Ila. Trümmer hatten die beiden Geschwister überschüttet. Fabin versuchte sich aufzurappeln, doch er war eingeklemmt. »Ich komme nicht raus!« Sein Fuß steckte im Häuserschutt fest. »Heb diesen Stein an, Ila!« Doch das Mädchen schaffte es nicht. Zu schwach waren ihre dünnen Ärmchen. »Wo ist Mama?«, wollte sie wissen.

»Ila, geh bitte Hilfe holen, ich komme sonst nicht raus. Bitte, ja?« Sie nickte, während ihr Tränen in die Augen stiegen, und schob sich aus den Häuserresten hinaus. »Ila, glaub mir, alles wird gut«, rief Fabin ihr nach.

Es dauerte lange, bis Hilfe aufgetrieben war. Unerträgliche Minuten, in denen Fabin dalag und seinem Herzschlag lauschte. Er hörte, wie Trümmer beiseite geschafft wurden, wie Überlebende verzweifelt nach ihren Angehörigen riefen und keine Antwort erhielten. Er hörte Tränen rollen und spürte die Angst.

Irgendwann kam Ila mit zwei Männern zurück. Sie hoben die Steine an und befreiten Fabin.

»Danke.« Fabins Bein pochte, doch er versuchte den Schmerz zu ignorieren.

»Ihr könnt hier nicht bleiben«, sagte einer der Männer.

»Wir wissen nicht, was mit unseren Eltern ist«, widersprach Fabin.

»Ihr könnt hier nicht bleiben, Kinder!«, wiederholte der Mann.

Dann ließen sie Fabin mit seiner Schwester stehen und suchten nach weiteren Verletzten.

»Was machen wir nur?« Stumme Tränen rannen Ila über die Wangen und tropften auf den staubigen Schutt. Ihre Augen waren verquollen, ihre dunkle Haut geschunden und zerkratzt.

»Du hast gehört, was die Männer gesagt haben. Wir können nicht bleiben, wir müssen weg hier.«

»Aber wohin denn? Wir können nicht weg, nicht ohne Mama, ohne Papa …«

Ohne ein weiteres Wort lief Ila los. Sie kletterte über die Trümmer, sprang über Steinhaufen und schob sich zwischen Mauerresten hindurch – immer wieder die Namen ihrer Eltern rufend.

Fabin hastete ihr nach, bis er sie eingeholt hatte. »Sie sind nicht mehr hier, Ila.«

canyonlands 1730077 960 720

Er nahm ihre Hand und führte sie durch die zerbombten Straßen, hinaus aus der Stadt, hinein in die Wüste. Der nächste Ort war nicht weit entfernt, dort waren sie sicher – fürs Erste.

»Ich kann nicht mehr!«, jammerte Ila nach einer Weile. Ihr Bruder hob sie auf den Arm und trug sie weiter.

Irgendwann gaben auch Fabins Füße nach. Der Schmerz des verletzten Beines war zu groß. Er musste sich setzen. Alles war schrecklich, doch er musste stark bleiben. Für Ila. Sie war zu klein, um alles zu verstehen, und musste doch hautnah erfahren, was wirklich leiden hieß.

»Kennst du den Sandkornzauber?«, fragte Fabin. Ila schüttelte kaum merklich den Kopf. Fabin griff in den Wüstensand und hielt ihn vor sie.

»Was ist das? Ein Sandkornzauber?« Sie wischte sich schniefend über die Nase.

»Es ist ein ganz starker Zauber. Er gibt Kraft, Mut und macht unbesiegbar!«

»Glaub ich nicht!«, entgegnete sie, doch ihre dunklen, großen Augen musterten ihn prüfend. Stimmte das, was ihr Bruder da sagte?

»Also Ila, schau genau zu.« Mit aller Kraft pustete Fabin in seine Hand. Die Sandkörner stoben auseinander – in die Luft und ihm ins Gesicht.

»Jetzt hab ich diesen verflixten Sand in den Mund bekommen!«

Ila lachte, sie hatte aufgehört zu weinen. Fasziniert betrachtete sie ihren Bruder.

»Aber keine Sorge, er wirkt trotzdem, spürst du ihn schon?«

Ila horchte in sich hinein. Ja, in der Tat, irgendetwas war da. Vielleicht waren ihre Eltern doch nicht tot. Vielleicht werden sie sich wiedersehen. Vielleicht wird alles gut.

Fabin glaubte nicht an den Sandkornzauber, er hatte ihn lediglich erfunden. Doch allein um seine Schwester lächeln zu sehen, hatte es sich gelohnt. Ila hingegen spürte es ganz deutlich, der Zauber wirkte. Der Zauber war die Hoffnung. Die Hoffnung, die in einem kleinen Kinderherzen zu keimen begann. Hoffnung aus einer Hand voll Sand.

sunrise 1226471 960 720