Literareon

»Rosarot und lilablau«

Diese Geschichte von Lia Violisti wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »rosarote Brille« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

Die Autorin

Lia Violisti ist im Rheinland geboren und aufgewachsen und hat an der RWTH Aachen Deutsche Philologie, Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Psychologie studiert. Seit 2005 lebt sie mit ihrer Familie im Nordosten Englands und ist an der Newcastle University tätig. In ihrer Freizeit schreibt sie Kurzgeschichten und arbeitet gleichzeitig an mehreren Schreibprojekten, einschließlich eines Romans.

Geleitwort der Jury

Eine rosarote Brille färbt die Welt schön, taucht sie in ein warmes Licht. Doch die sprichwörtliche rosarote Brille hat im Volksmund nicht von ungefähr eine trügerische, verzerrende Bedeutung. Wer sich die Welt wunderbar färbt, der will die Realität nicht wahrhaben, der verschließt sich den Tatsachen ein rosarotes Stück weit. Andererseits: Ist das manchmal vielleicht gar keine so schlechte Idee? Denn ein eigener Blick auf das Leben, eine wohlwollende und optimistische Sicht auf die Dinge – das muss nicht von Nachteil sein.

Zugegeben: Wir erwarteten zunächst eine Vielzahl an Beiträgen zum Thema Liebe, als wir uns für dieses Wettbewerbsmotto entschieden haben. Aber wieder überraschten uns die Einsendungen mit ihrer Vielfalt an Interpretationen. Und so versichern wir Ihnen, dass höchstens eine handelsübliche Lesebrille, ganz ohne rosarote Brillengläser, nötig sein könnte, um die hier versammelten Gewinnergeschichten zu genießen.

 

Rosarot und lilablau

»Ich will nicht mehr mit dir zusammen sein.« So, jetzt war es raus. Tom starrte mich an, als hätte ich ihm ein Messer in den Bauch gerammt.

»Zieh dieses verdammte Ding aus, wenn du mit mir Schluss machen willst. Ich möchte, dass du es mir ohne deine rosarote Brille sagst.«

 

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»Das bringt doch nichts.«

Ich lief in den Flur, packte meine Jacke und stürmte hinaus. Es war bestimmt besser, Tom eine Weile allein zu lassen, das musste er erstmal verdauen. Meine Brille ausziehen, was für ein Unsinn. Mein Leben war nun mal rosarot. Ich war rosarot. Und Tom war lilablau. Das hatte von Anfang an nicht gepasst, aber wir hatten es nicht wahrhaben wollen.

Ich ging schnell, lief fast, als würde ich vor etwas wegrennen. Schnee setzte ein. Der Wind wirbelte ihn auf und ließ ihn vor meinen Füßen tanzen, bevor er auf den Gehweg fiel. Es war eisigkalt, aber das störte mich nicht. Mein Körper fror und ich konnte so tun, als käme die Kälte in meiner Brust vom Wetter und nicht von der Erkenntnis, dass es vorbei war.

Ich traf mich mit Emma im Café.

»Es ist das Beste so, für euch beide«, sagte sie, während sie an ihrer dampfenden Kaffeetasse nippte. »Auch wenn Tom es im Moment nicht wahrhaben will. Lass dich nicht beirren. Und wenn du schwach wirst, denk an die ganzen Streitereien. So kann das nicht weitergehen.«

Das stimmte. Wir hatten es immer wieder geschafft, uns vor unseren Freunden anzumotzen. Das letzte Mal war es vor zwei Wochen auf Emmas Geburtstagsparty passiert. Die Wahlen standen an und wir waren auf Politik zu sprechen gekommen, das war bei unserer Farbkombination ein heikles Thema. Ich unterstützte die rote Arbeiterpartei und Tom wählte blau-konservativ.

»Du bist und bleibst ein privilegiertes Arschloch«, hatte ich ihn irgendwann vor allen anderen angegiftet und er war beleidigt abgezogen und hatte den Rest des Abends nicht mehr mit mir gesprochen.

Als wir uns kennengelernt hatten, damals an der Uni, hatten wir unsere Brillen nicht so oft getragen. Wir wollten experimentieren, uns Optionen offenhalten und kamen uns dabei rebellisch vor. Vielleicht hatten wir deshalb nicht früh genug gemerkt, dass wir im Grunde inkompatibel waren. Unsere Vorlieben und Weltanschauungen standen in dem Alter schon längst fest, das mit dem Experimentieren war ziemlich naiver Stuss gewesen.

»Es gibt Themen, bei denen muss man einer Meinung sein, sonst kann eine Beziehung nicht auf Dauer funktionieren«, hatte mein Vater mich kurz vor der Hochzeit gewarnt. »Das würdest du doch bei Freunden auch nicht anders handhaben. Oder würdest du mit jemandem ein Bier trinken gehen, der beim Brexit anders gewählt hat als du?«

Meine Eltern waren beide grüngelb, engagierten sich für die Umwelt und liebten sonnige Tage und Zitroneneis. Und außer ihren Kindern ließen sie niemanden an ihrem Leben teilhaben, der das anders sah. Ich hatte sie noch nie mit jemandem streiten gehört, geschweige denn miteinander. Aber da ich rosarot war, hatte ich natürlich nicht auf sie hören wollen.

Ich sah auf mein Handy, Tom hatte eine Nachricht auf Twitter gepostet. Eine seiner typisch konservativen Ansichten darüber, was mit dem Gesundheitssystem nicht stimmte. Wie konnte er nur so einen Müll von sich geben? Ich wollte vor Wut schreien. Wenn irgendjemand einen Shitstorm auf ihn lostrat, würde ich mich nicht beherrschen können und mitmachen. Ich zeigte Emma den Tweet. 

»Ist es ok, wenn ich Tom auf Twitter blockiere?«, fragte ich.

»Klar, vor so einem Mist muss du dich schützen.«

Am liebsten wäre ich den ganzen Tag weggeblieben, aber früher oder später musste ich mich dem Gespräch mit Tom stellen. Ich schloss die Tür auf, wischte meine Schuhe auf der Fußmatte ab und trat ins Haus. Es war laut, Tom hatte die Kinder abgeholt.

»Mama, schau, das hab ich für dich gemalt«, rief Lara. Meine Neunjährige kam mir entgegengelaufen, ihren jüngeren Bruder Finn im Schlepptau. Die beiden trugen keine Brillen, dafür waren sie zu jung. Ich war mir sicher, bei Lara schon gelb-lila Züge ausmachen zu können, aber vielleicht konnte sich das tatsächlich noch ändern.

Ich nahm meine Brille ab, um einen neutralen Eindruck auf Laras Arbeit zuzulassen, ab und zu erlaubte ich mir das bei meinen Kindern. Eigentlich mochte ich nur rosa und rot, da störten andere Farben, aber ohne Brille ließen mich die vielen unterschiedlichen Töne lächeln.

Finn drängte sich zwischen uns. »Ich hab dir einen Blumenstrauß gepflückt«, rief er. Die Blumen leuchteten in rot, gelb, lila, orange, weiß und rosa.

»Der ist aus Omas Garten?«, fragte ich überrascht.

»Nee, die hat ja nur Sonnenblumen. Den hab ich auf der Wiese hinterm Haus gepflückt.«

Lara und Finn liefen ins Wohnzimmer und ließen mich mit einem leichten Kribbeln in der Magengegend zurück. Vielleicht war ich ein wenig neidisch auf ihre bunte Welt.

Ich schaute zu Tom hinüber, der uns vom Türrahmen aus beobachtet hatte. Ich sah das kleine Grübchen auf seiner Wange, das sich noch ein wenig vertiefte, wenn er lächelte. Es war mir schon ewig nicht mehr aufgefallen, dabei hatte ich am Anfang unserer Beziehung jedes Mal ganz schwache Knie bekommen, wenn er ein Grinsen aufgesetzt hatte. Und dann fiel mir alles wieder ein. Wie wir ganze Abende miteinander diskutiert hatten, wie lebhaft und impulsiv unsere Gespräche gewesen waren. Ich hatte ihn von meinem Standpunkt zu überzeugen versucht und hatte mir seine Gegenargumente angehört. Nicht aus Höflichkeit, es hatte mich tatsächlich interessiert. Wir hatten fast nie unsere Meinung geändert, aber am Ende hatten wir uns wie berauscht gefühlt, hatten uns stundenlang geliebt und den Rest der Nacht im Arm gehalten.

»Ohne Brille hätte ich das heute Morgen nicht zu dir gesagt«, merkte ich an.

Tom schien erleichtert.

»Und was ist mit den Kindern?«, fragte er.

Wegen der Kinder war der Streit eskaliert. Tom wollte, dass sie ohne Brille aufwuchsen. Nicht nur jetzt, auch später, wenn sie älter waren. Er wollte sie auf eine Schule schicken, auf der das erlaubt war. Ich legte meine Brille, die ich immer noch in der Hand hielt, auf der Kommode ab.

»Lass uns reden«, sagte ich. »Es gibt bestimmt einen Kompromiss.«