Literareon

»Marion«

Diese prämierte Geschichte von Jutta Schmid wurde im Gewinnerband »kunterbunt« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

Foto Jutta Schmid

Die Autorin

Jutta Schmid hat nach dem Studium der Geoökologie in Bayreuth an der ETH Zürich im Fachbereich Umweltmikrobiologie promoviert. Im Anschluss daran arbeitete sie mehrere Jahre für ein Privatunternehmen im Bereich Chemikaliensicherheit. Heute ist sie Mutter zweier Töchter, lebt mit ihrem Mann in der Schweiz und ist Hobbyschriftstellerin.

Geleitwort der Jury

Wir könnten uns keine Welt ohne Farben vorstellen – oder haben wir uns schon längst daran gewöhnt? Wie wäre es, in einer grauen Welt zu leben? In einer Welt, in der jegliche Farbe aus dem Leben der Menschen entfernt wurde? Könnten wir dort leben? Wir laufen oft Gefahr, alles gleich zu gestalten: Unseren Alltag, unseren Stil, unsere Lebensweise. Da tut Abwechslung not. Verleihen wir also unserem Leben mehr Farbe.

Schon Pippi Langstrumpf fühlte sich in der Villa Kunterbunt wohl. Und kunterbunt treibt es nun auch unser Kurzgeschichtenwettbewerb: kunterbunt wie die Träume eines Raben; kunterbunt wie die Sorgen eines Frosches; kunterbunt wie die Farben eines Gemäldes, die Farben der Liebe, des Glücks; kunterbunt wie die Klänge der Musik. Ja, der literarische Wind wehte viele bunte Beiträge zu unserer Verlagstür herein. Aus der Fülle dieser Beiträge konnten wir uns kaum für die Gewinner entscheiden; so viele Geschichten waren inspirierend und beeindruckend. Manche dieser kurzen Storys verzauberten uns aber ganz besonders, ließen uns in kunterbunte Welten eintauchen.

Mit dem vorliegenden Buch wollen wir dieses Gefühl auch an unsere Leserinnen und Leser weitergeben. Entfliehen Sie der tristen, grauen Alltagswelt und bekennen Sie Farbe!

balls 798372 1920

Marion

building 674828 1920

Marion war eine alte Schulfreundin von mir. Von außen sah man ihr nie etwas an, auch später nicht, als ihr – wie soll ich es nennen – Tick? ihre Krankheit? Syndrom? schon fortgeschritten war. Vorausgesetzt, man sah sie außerhalb ihres Hauses.

Sie sah gepflegt aus, die Fingernägel waren ordentlich kurz geschnitten, die dunkelblonden Haare schön gebürstet und frisiert, die Kleider eher sportlich als elegant, wie es für eine Mami von vier Kindern zweckmäßig ist.

Marion wohnte mit ihrer Familie etwas mehr als eine Autostunde entfernt von uns in einem recht abgelegenen Dorf in den Bergen, daher sahen wir uns nicht so oft. Und mit ihrer wachsenden Kinderschar, zwei Hunden und einer veränderlichen Anzahl von Kaninchen, Meerschweinchen und Katzen waren Marion und ihr Mann Aaron, was Besuche bei uns anging, nicht sehr flexibel. Dafür waren wir jederzeit bei ihnen willkommen, wenn wir gelegentlich spontan vorbeischauten, um im Anschluss eine Wanderung zu unternehmen in dem wunderschönen Wandergebiet vor ihrer Haustür.

Das erste Mal, als wir Marion und Aaron in ihrem neuen Haus in den Bergen besuchten, war alles hübsch eingerichtet. Bilder von Pferden an der Wand, die Marion so sehr liebte, blaue Sofamöbel, und schöne Kreativarbeiten, von Marion nett drapiert. Durch die großzügigen Wohnzimmerfenster atmete man eine blaue Landschaft mit See, auf dem sonnigen Sitzplatz konnte man mit den Grillen im Wiesengras träumen. Aaron machte eine Hausführung. In den Keller? Na, von mir aus, sagte er, es ist aber nicht besonders aufgeräumt. Wir stiegen die für einen Neubau enge, steile Kellertreppe hinab. Dort erwartete uns ein kunterbuntes Durcheinander von Wäschehaufen am Boden, leeren und noch nicht ausgeräumten Kartons vom Umzug, Säcken mit Tierfutter, Koffern, Rucksäcken, Vorräten in Holzkisten, Gartenmöbeln sowie dazugehörige Kissen und so fort. Alles lag und stand einfach auf dem Boden, da die neuen Kellerregale noch nicht aufgebaut und – noch in der Verpackung – an den Wänden lehnten. Zwischen den Sachen waren schmale Gänge zum Durchlaufen freigelassen. Wir kommentierten die Unordnung nicht und dachten, na, das ist mal eine Aufgabe für lange Winterabende. Zumal Marion im siebten Monat schwanger war mit ihrem – langersehnten – ersten Kind, und Aaron war beruflich stark engagiert.

baby 933097 1920

Bei unserem zweiten Besuch meldeten wir uns vorher an. Es ist ein bisschen chaotisch bei uns, aber ihr könnt trotzdem gern kommen, sagte Aaron am Telefon. Jasmin war vier Monate alt, und die Unordnung war klammheimlich die Kellertreppe hinaufgestiegen und hatte die Küche und Teile des Wohnzimmers erfasst. In der Küche war kaum ein freier Platz zu finden, um ein Glas abzustellen. Die Ablage war voll mit schmutzigem Geschirr, Babyfläschchen, Babymilchpulver, Hunde- und Katzenfutter, Vasen mit abgeblühten Blumensträußen, Lebensmitteln und Dekormaterial wie Kerzen, schöne Steine, flechtenbehangene Äste und Filzschmetterlinge. Im Wohnzimmer stapelten sich nicht gelesene Zeitungen, Babyspielzeug und Kinderbücher auf dem Klavier, auf dem anscheinend schon länger nicht mehr gespielt worden war. Wir führten die Unordnung auf die anstrengende erste Zeit mit dem Baby zurück, die wir vor nicht allzu langer Zeit selber erlebt hatten.

Bei jedem Besuch, ob angekündigt oder nicht, nahm das Chaos weiter zu. Zuerst hatte Marion Rückenprobleme, dann kam das zweite Kind, schließlich das dritte. Die Kinder wurden mit Spielwaren regelrecht überschüttet. Der Fußboden im ganzen Haus lag kunterbunt übersät mit Bobbycars und Plastiktraktoren, Büchern, Farbstiften, Brio-Bahn-Schienen und Eisenbahnwaggons, Puzzleteilen aus zwanzig verschiedenen Puzzles, Duplo-Legosteinen, kleinen Holzäpfeln, Birnen, Eiern, Kuchenstücken und Würsten aus dem brandneuen Verkäuferladen sowie Barbiepuppen und deren Kleidern und Schuhen.

Beim vierten Baby bekam Marion eine Haushaltshilfe. Diese war völlig überfordert und zeigte Marion nach dem dritten Besuch bei ihrer Chefin an. Marion und Aaron entgingen nur knapp einer Anzeige beim Jugendschutzamt – wegen Verwahrlosung. Dafür wurde ihnen ein Ordnungscoach zur Seite gestellt. Mit diesem verfeindete sich Marion jedoch innert kürzester Zeit und warf ihn schlankweg hinaus.

Dies erzählten uns Marion und Aaron, als wir kurz nach diesen Geschehnissen wieder einmal zu einem Kaffee bei ihnen vorbeischauten. Sie berichteten ebenfalls, dass sie gemobbt wurden im Dorf. Die Nachbarn wollten nicht mehr, dass ihre Kinder miteinander spielten. Marion wollte wegziehen.

Als wir auf der Heimfahrt waren, sahen wir uns hilflos an, mein Mann und ich. Was konnten wir tun für unsere Freunde? Unser Angebot, einmal im Monat einen Tag bei ihnen aufzuräumen, hatten sie zurückgewiesen. Andererseits – sie hatten genug andere Freunde, die helfen könnten, oder?

abstract 867306 1920

Eine Zeit lang hörten wir nichts mehr von den beiden. Wir bekamen selber unser zweites Baby und hatten alle Hände voll zu tun. Schließlich erreichte uns eine Glückwunschkarte, die von Aaron geschrieben war. Dies erschien uns merkwürdig, da sonst immer Marion für die Kontaktpflege »zuständig« gewesen war. So quetschten wir uns eines Sonntags zu viert in unser kleines Auto und fuhren los. Es war ein schöner Tag, gerade richtig für eine Wanderung. Wir läuteten. Niemand öffnete. Wir hörten auch keine Kinder und keine Hunde. Als wir uns umdrehten, um zu gehen, ging doch noch die Tür auf. Es war Aaron. Dreitagebart, Schatten um die Augen, bleich. Was ist passiert? fragten wir. Kommt herein, sagte er. Im Haus ein Chaos wie – fast – eh und je. Vor einer Woche hatte Belinda, die zweite Tochter, Marions Eisentabletten erwischt, erfuhren wir. Es sei sehr knapp gewesen, hatten die Ärzte im Krankenhaus gesagt, und es war noch nicht klar, ob Belinda einen dauerhaften Schaden erleiden würde. Das Jugendamt wurde alarmiert und war bei ihnen zuhause vorstellig geworden, woraufhin die anderen drei Kinder in einer Pflegefamilie untergebracht worden waren. Danach war Marion zusammengebrochen. Ich besuche Marion. Wieder einmal spontan. Die freundliche Empfangsdame teilt mir ihre Zimmernummer mit. Ich gehe weiße Korridore entlang, fahre mit dem Lift in den dritten Stock, gehe wieder durch einen weißen Korridor. Ich klopfe bei Zimmer Nr. 39. Als jemand leise »herein!« ruft, trete ich ein. Marion sitzt mit dem Rücken zur Tür an einer Staffelei und malt. Sie dreht sich zu mir um. Ihr Gesicht wirkt aufgedunsen durch die Psychopharmaka. »Hallo«, sage ich. »Hallo«, sagt sie und wendet sich wieder ihrem Bild zu. Mit großen Pinselstrichen trägt sie dick Farbe auf. Ich sehe mich um. Das ganze Zimmer hängt voller Bilder, von Marion gemalt. Die sind bunt. Kunterbunt.