Literareon

»Wanderung«

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Diese Geschichte von Lukas Nünnerich wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »Wanderung« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

Der Autor

Lukas Nünnerich, geboren 2002 in Siegen, lebt und studiert zurzeit in Münster. Schon seit seiner Kindheit schreibt er Kurzgeschichten und Gedichte, hat an Workshops und Wettbewerben teilgenommen. Seine Texte siedeln sich zwischen alltäglichen Kleinigkeiten und absurden Traumszenarien an, wobei stets der Versuch mitschwingt, Erfahrungen und Gefühlszustände fassbar zu machen. Inspirationen werden in Großstadtcafés, auf Vorstadthöfen oder Waldspaziergängen gesammelt. Überall dort, wo Menschen ein Stück ihrer selbst offenbaren, überall dort, wo man sich selbst ein Stück besser kennenlernt.

Geleitwort der Jury

Wanderungen können strapaziös, eindrucksvoll oder manchmal auch alles erschütternd sein. Ob es sich um die buchstäbliche Wanderung in den Bergen handelt oder aber um die Wanderung durchs Leben: meist sind solche Touren geprägt von Wandel, von Entwicklung, von einkalkulierten, aber auch unwägbaren Hürden. Und etwas ist am Ziel immer ein wenig anders als noch am Ausgangspunkt.

Wandern Sie nun mit uns von Kurzgeschichte zu Kurzgeschichte – durch ganz unterschiedliche Szenerien, aber immer mit genügend Spannung auf allen Wegen.

Lukas Nünnerich: Ihr Nicht-Mehr-Vorhanden-Sein

Ich saß an dem Berghang, mit Geröll und einem kleinen Bach im Rücken, vor mir die Schlucht, an deren steiler Wand wir die letzten zwei Stunden entlanggewandert waren, nur noch zehn Minuten entfernt die Kemptner-Hütte, das Ende der ersten Strecke. Neben mir hockten die anderen, genossen den ruhigen Moment, nach geschaffter Etappe und vor dem Trubel der Berghütte, den Abend, der mit Weizenbier und Wein, Tiroler Hut und Gesellschaftsspielen enden würde. |Anna| zündete sich gelassen eine Zigarette an. Dass sie mit dieser Lunge den Aufstieg überhaupt geschafft hatte, war ein Wunder.

Noch vor einem Tag im Zug hatte sie gefragt, ob jemand mit ihr einen Tandemsprung machen wollte. Nach der Wanderung. Sie hatte die Frage ohne Kontext in den Raum gestellt und die anderen waren zu verwundert gewesen, um darauf etwas aufzubauen. Aber ich hatte kaum überlegen müssen: »Ach, fuck it, ich bin dabei!«

Draußen waren die Bäume vorbeigeflogen, ein kleiner Vogel hatte versucht, mit meinem Sichtfenster mitzuhalten. Doch bald war er verschwunden gewesen und zurück war nur ein Fleck auf der Scheibe geblieben.

Dann waren wir in Oberstdorf angekommen.

Am nächsten Tag waren wir aufgebrochen, von Regenschauern und einzelnen Sonnenstrahlen überrascht, waren nebeneinander die Wege vorangestapft, bis sie Pfade wurden und wir im Gänsemarsch durch die Schlucht wanderten. Wir hatten aufeinander gewartet, zusammengedrückt am Hang gestanden, Fotos im Nebel gemacht und andere Wandernde vorbeigelassen, hatten den beschränkten Ausblick und die feinen Regentropfen, die über das Blätterdach gerollt und Grün für Grün nähergekommen waren, bis sie zwischen Nacken und Regenjackenkragen gelandet waren, genossen; auf B. gewartet, der sich bereits nach zwei Stunden eine Blase gelaufen hatte, aber vielleicht war sie schon vorher an seiner Ferse gewesen, hatte nur darauf gewartet, aufzutauchen.

Nachts in der Hütte, als die anderen sich schon in den Schlaf schnarchten, schrieb ich ein paar Zeilen über unseren ersten Tag. Und wer weiß, vielleicht hätte ich sie Dir später einmal gezeigt.

Am nächsten Tag gingen wir weiter. C. lief mit dem Reiseführer in der Hand vor, wurde zu unserer Leitkuh. D. und E. kämpften sich abseits der Wege durchs Gebüsch, um in der nächsten Hütte einen ausgegeben zu bekommen, F. und G. tauchten in Gespräche über Bücher und Filme ein. B. machten die Aufstiege immer mehr zu schaffen, erst auch der linke Fuß, dann das Knie. Und ich versuchte, |Anna| nicht die ganze Zeit anzuschauen, nicht dauernd ihre Hand halten zu wollen.

Wir kamen in der Memminger-Hütte an.

Am nächsten Tag wollten wir früh aufbrechen, doch B.s Knie machte uns einen Strich durch die Rechnung. Es schmerzte immer stärker und wir kamen nur langsam voran. Der Anstieg die Seescharte hoch wurde zum Kampf. Seine Stöcke wurden zu Flügeln, die zwar sein Gewicht trugen, ihn aber kaum in den Himmel. Er stolperte und stolperte und wir sahen ihn schon herunterfallen.

Nach dem Anstieg mussten wir noch ein paar Stunden bergab nach Zams laufen.

Eine unserer Pausen auf dem Abstieg lag an einem kleinen Bach, nur ein paar Schritte weiter ging es zig Meter in die Tiefe. Wir warteten. Ich fing an, |Anna| mit Wasser vollzuspritzen, weil der Regen sich verzogen hatte und es warm geworden war, sie spritzte zurück. Wir warfen uns gegenseitig mit kleinen Zapfen ab, während sie ihr Feuerzeug rausholte und sich eine neue Zigarette anzündete.

Eigentlich wären wir weitergelaufen und nach ein paar Stopps, auf idyllischen Lichtungen und abgegrasten Hängen, in Zams angekommen. Wir hätten gemeinsam in einem Burger-Restaurant gesessen, gegessen und dann diskutiert: »Schaffst du es, weiterzuwandern?«

B. wäre überzeugt gewesen, wir nicht. Wir hätten bis spät in die Nacht gestritten. |Anna| hätte versucht, ihn zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen: »Bei deinem Zustand könntest du wegrutschen und sterben!« Beruhigend.

Am nächsten Tag wäre er aus dem Zimmer gestürzt, zum Bahnhof gehumpelt und hätte allein wegfahren und weiterwandern wollen. Wir hätten ihn nach Hause schicken müssen. Er hätte wie ein Wahnsinniger an den Zugtüren gerüttelt, wäre eingestiegen und wir hätten ihm folgen müssen. Innsbruck. Er hätte weitergetobt, uns zum Weinen gebracht. Wir hätten den ganzen Tag gebraucht, um ihn zur Vernunft zu bringen und schließlich nach Hause zu schicken.

Am nächsten Tag wären wir mit dem Untergang einer Freundschaft im Gepäck in einen Zug gestiegen, weitergefahren und dann weitergewandert und endlich im Schneegestöber in der Martin-Busch-Hütte angekommen. |Anna| und ich hätten uns eine Schneeballschlacht geliefert und Schneefiguren gebaut. Wir hätten versucht, uns abzukühlen.

Am nächsten Tag wären wir in unserer letzten Etappe nach Vernagt gekommen, um mit dem Bus nach Meran zu fahren. Im Bus hätte ich mich erschöpft neben |Anna| gesetzt, den Kopf angelegt und mit ihr geträumt. Was wäre passiert, wenn er nie Knieprobleme gehabt und nie ausgeflippt wäre?

Die nächsten drei Tage hätten wir in Meran in der Sonne verbracht, Aperol und zu viel Eis. Aber auch gequälte Nächte, weil wir uns Vorwürfe gemacht und |Anna| und ich etliche Anrufe von B.s Eltern bekommen hätten: »Ihr habt ihn im Stich gelassen!« Und es wäre nicht einmal gelogen, aber doch nur die halbe Wahrheit gewesen. Wir hätten es nicht besser gewusst.

Aber dazu kam es nicht.

Nachdem ich sie mit dem zigsten Zapfen abgeworfen hatte, stand |Anna| auf und spritzte mit dem Fuß Wasser nach mir. Sie ging ein paar Schritte ins Gebüsch, um einen weiteren Zapfen zu finden, den sie schmeißen könnte.

Dann rutschte sie weg.

Wir hörten nur einen lauten Schrei. Und hätten |Anna| und ich jemals einen Tandemsprung gemacht, hätte sie denselben Schrei beim Fall aus dem Flugzeug ausgestoßen. An der Stelle, wo sie noch einen Augenblick zuvor in meinem Sichtfenster gestanden hatte, blieb nur ein Fleck auf meiner Brille zurück. Ihr Nicht-Mehr-Vorhanden-Sein.

 

Weiß Du, wie es sich anfühlt? Es erinnert mich daran, wie Du Dir einmal betrunken die Geschenkkarte Deiner Schwester griffst, Dein Feuerzeug unter ihren Namen hieltst und es anzündetest; wie die Hitze ein Loch in das Papier fraß. Am nächsten Tag sahst Du, was Du getan hattest, und weintest.

Die Wanderung letztes Jahr hat ein eben solches Loch hinterlassen. Ein schwarzer Saum um das Nichts herum: |Anna|

 

Abbildung: Volker Glätsch/pixabay.com