Tanz
Diese Geschichte von Adam Sirovatka wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »Tanz« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.
Der Autor
Adam Sirovátka, Jahrgang 2000, studiert in Mainz Geschichte und Katholische Theologie auf Lehramt. Mit dem Schreiben fing er während seiner Gymnasialzeit in Prag an. 2021 erschien sein erster deutsch-tschechischer Kurzgeschichtenband »O mrtvých a trýzněných/Von Toten und Gequälten«. 2023 wurden drei seiner Kurzgeschichten in der Prager Literaturzeitschrift Tvar publiziert.
Geleitwort der Jury
Der Tanz in den Mai, der Tanz mit dem Teufel, ein Tänzchen im Tanzkurs oder – wie böse – das Tanzverbot: unser Wettbewerbsmotto »Tanz« zielte auf beschwingte und wendige Beiträge ab, und wir, die Jury, wurden nicht enttäuscht. Mal waren die Geschichten wild-romantisch wie der Tango, mal spannend-explosiv wie ein Tanz auf dem Vulkan. Aus der Vielzahl der Einsendungen die Gewinnerbeiträge zu ermitteln, da mussten wir schon ein Tänzchen aufführen. Und das Ergebnis präsentieren wir Ihnen in unserem neuesten Kurzgeschichtenband. Dürfen wir bitten?
Adam Sirovatka: Abendkonturen
Als ich heute Morgen die Balkontür öffnete, um wie so viele andere einen Kaffee zu trinken und eine Zigarette zu rauchen, überlegte ich, ob das, was ich gestern Nacht erlebt hatte, nicht doch ein Traum gewesen war.
Gestern bin ich M. begegnet. Ich bin in einem Club gewesen, habe mehrere Gläser Sekt getrunken, mit ein paar Kollegen geredet und habe mich nicht sonderlich amüsiert. Das Licht war schummrig, das Interieur in einem vollen, knalligen Rot gehalten, die Musik etwas zu laut und auch nicht gerade mein Geschmack. Es war der triste Höhepunkt eines weihnachtlichen Firmenevents, das uns für unsere Arbeit, für die zahllosen geleisteten Überstunden beschert wurde.
Ich kann nicht mehr genau sagen, wann ich M. dort, am linken Tresenende sah, ich weiß nur, dass sie irgendwann da war, dass sie in einer lockeren, selbstbewussten Pose mit einem Cocktail in der Hand neben einem Mann stand – ich glaube, es war ein Kollege von der Arbeit, den ich nur vom Sehen her kannte – ihm direkt in die Augen blickte und ab und zu kurz, aber energisch auflachte.
Ich lernte sie vor fast genau 20 Jahren, während meiner Studienzeit kennen – wir gingen zu denselben Vorlesungen, denselben Seminaren und beide wollten wir Lehrer werden und später einmal volle, dröhnende Gymnasialklassen übernehmen. Es waren wohl die zahllosen gemeinsamen Stunden im Hörsaal, die ich allesamt neben ihr verbracht hatte und all die langen Gespräche über Geschichte und Literatur danach, die dazu führten, dass ich mich irgendwann in sie verliebte.
Wir machten regelmäßige, endlose Spaziergänge, meistens im Park, und manchmal holten wir dann eine große, blaue Decke raus, die ich noch immer besitze – sie liegt jetzt im Schrank unter unzähligen Wollsocken begraben –, aßen kleine Käsespieße und tranken Weißwein dazu, bis wir irgendwann angetrunken waren und wieder nach Hause gingen. Abends gingen wir aus, in Kinos, Bars und redeten über allerlei Themen, über allerlei Bücher und eines Tages sagte sie, sie wolle es so machen, wie im Vorleser und ich solle ihr jedes Mal davor vorlesen und sie würde zuhören. Wir machten es so und es war reine, unendlich warme Poesie. Ich glaube, diese Jahre waren die wohl schönsten in meinem Leben.
Und irgendwann las ich ihr nicht mehr vor und ich schlief alleine ein und die warmen Jahre waren vorbei. Und M. wurde zum erkalteten Gesicht, und dann verblasste auch dieses und es blieb nur noch ein Name, ein paar Buchstaben, die mir nichts mehr bedeuteten.
Der Mann, mit dem sie sprach, sah mich an und sie folgte seinem Blick, drehte sich langsam zu mir um und lächelte unwillkürlich. Ich trug jetzt einen Bart, hatte etwas kürzere Haare und die Umstände unseres Wiedersehens waren so surreal und so gravierend anders als damals, bevor wir uns aus den Augen verloren, dass ich glaubte, sie konnte mich nicht erkannt haben. Es war vielleicht diese Überzeugung, die verursachte, dass ich mich nicht vom Fleck rührte, als sie auf mich zukam. Sie sagte, willst du mit mir tanzen? Sie sagte, kannst du überhaupt tanzen, und sie streckte mir ihre Hände – die ausgeprägten Fingerknöchel, die langen, schönen Finger mit den schmalen Nägeln – mit einer beiläufigen Eleganz entgegen. Sie trug einen Ring an der rechten Hand und ich bemerkte, dass ich überrascht war, ich konnte sie mir nicht als Ehefrau vorstellen. Ja, sagte ich, wir gingen auf die Tanzfläche und ich nahm ihre Hände.
Als der Club fast leer war, legte sie ihre Arme um meinen Hals, fragte, ob sie mich küssen dürfe, und ich verneinte es nicht. Wenn ich mich recht erinnere, waren das die letzten Sätze, die wir an dem Abend wechselten. Die Musik, zu der wir tanzten, hörte auf und der Barkeeper meinte, so das war’s jetzt, Feierabend, und sie nahm ihren Mantel und ging aus dem Club und ich ging nach Hause.
Der Kaffee war ausgetrunken. Ich drückte die Zigarette aus, ging rein, zog hinter mir die Tür zu und überlegte, warum sie nicht nach meinem Namen gefragt hatte.