Literareon

»Die Verstummten«

Diese Geschichte von Victoria-Sophie Zollorsch wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »Schatz« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

Die Autorin

Victoria-Sophie Zollorsch wuchs im beschaulichen Dorfidyll auf dem bayerischen Lande auf. Nach längeren, beruflich vielseitigen Auslandsaufenthalten in Frankreich, Spanien und Schottland verschlug es sie wieder zurück ins Dorf ihrer Kindheit. Hier lehrt sie Deutsch als Fremdsprache lässt ihren Leidenschaften zwischen Bäumen, Wiesen und Sümpfen freien Lauf: der Musik, den Farben und dem Geschichtenschreiben.

Das Gleitwort der Jury

Mit dem Wort »Schatz« verbindet jeder etwas anderes: Für den einen ist der oder die Geliebte der kostbarste Schatz auf Erden, für den anderen ist die Kollegin ein wahrer Schatz, da sie sämtliche Termine im Griff hat und auf alle Eventualitäten vorbereitet ist. Wieder andere assoziieren mit diesem Ausdruck mythenumrankte Truhen voller alter Goldmünzen, die in der Tiefe des Meeres darauf warten, von Schatzsuchern entdeckt und geborgen zu werden.

Das unbändige Verlangen danach, einen Schatz zu finden und zu behalten, der Neid auf die Schätze anderer oder das Glück, einen verschollen geglaubten Schatz endlich wieder in den Händen zu halten, sind Themen, die in der Weltliteratur über die verschiedensten Epochen hinweg aufgegriffen und in all ihren Konsequenzen ausgelotet wurden. Man denke nur an den sagenumwobenen Hort der Nibelungen, der laut nordischer und germanischer Heldensagen den Untergang ganzer Völker und Herrschergeschlechter bedingte, oder an den immensen Schatz, der dem Grafen von Monte Christo in Alexandre Dumas’ gleichnamigen Roman zu ungeheurem Reichtum und zur Verwirklichung seiner skrupellosen Rachepläne verhalf.

Die eingesandten Kurzgeschichten zum Wettbewerbsthema »Schatz« knüpfen an dieses klassische Schatzmotiv an, entwickeln es dabei jedoch weiter und nähern sich dem Begriff von einem erfrischend modernen Standpunkt. Dabei geraten nicht zuletzt Fragen danach in den Blick, was wir in unserer heutigen Zeit als Schatz ansehen, worauf sich unsere Sehnsüchte, unsere unablässige Suche richten und was diese Schätze für uns so ungemein kostbar und begehrenswert macht.

Und so war es auch für unser Team eine regelrechte Schatzsuche, unter den zahlreichen Einsendungen die fesselndsten, ergreifendsten, aber auch zartfühlendsten Geschichten auszuwählen und für Sie zusammenzustellen.

Wir freuen uns, Ihnen in diesem Band eine Auswahl aus unserer Schatzkammer präsentieren zu dürfen, und wünschen Ihnen eine vergnügliche Lektüre.

 

Ihre Jury

»Die Verstummten«

Wie eine Verbrecherin sieht die Lady nicht aus. Viel zierlicher, als Johanna erwartet hat, und das lange weiße Haar zum Zopf geflochten. Nur die Wachposten in der Villa erinnern Johanna daran, Verachtung, statt Bewunderung zu fühlen für das prächtigste Gebäude, das sie je auf Mars 23 gesehen hat. Die Lady gibt ihr schwungvoll die Hand, bietet ihr Whiskey an und sie nehmen Platz. Der Sicherheitsmann tritt in den Hintergrund. Das Interview, ein Meilenstein in Johannas Karriere. Sie aktiviert ihren Chip am Ohr. Die Lady schickt ihr einen einladenden Impuls: „Willkommen in meiner Bibliothek.“

Johanna hat lange kein Buch in der Hand gehabt. „Lady, Sie wollten dieses Interview geben. Gleich zu Beginn, die Erfindung von E-pathie hat uns den Weg in ein sehr friedliches Jahrtausend bereitet. Was empfinden Sie dabei?“

„ˏFriedlich´ ist etwas euphemistisch. Die elektronische Telepathie hat uns aus den größten Irrungen und Wirrungen befreit. Ein Segen. Kein Krieg mehr, wenige Konflikte. Seit fünfhundert Jahren.“ Ihr Gedankenstrom spült in Johannas Eindruckswelt hinüber.

„Und doch bekämpfen Sie E-pathie öffentlich?“

„Nun … die ‚Krankheit‘ unserer Vorfahren war deren Mangel an Empathie. Die hat uns E-pathie zurückgebracht. Doch, die Technologie hat uns unsere Menschlichkeit zurückgegeben. Einen Teil davon.“

„Jemand aus der Zeit vor dem telepathischen Zeitalter hätte Schwierigkeiten, sich in unserer Gesellschaft zurechtzufinden. Sie wären überwältigt davon, echte Völkerverständigung und Weltfrieden zu sehen!“

europe 63026 1920„Selbst wenn Zeitreisende kämen, wie sollten sie uns das bitte erzählen können? …“ Die Lady erhebt sich und führt Johanna tiefer in die Bibliothek. Sie halten vor einer Vitrine mit Landkarte. Die Länder und Meere des Alten Planeten Erde schmücken das Papier, Buchstaben drängen sich zwischen den Ländergrenzen. „Ein Familienerbstück. Die Weltkarte um 2300 nach Christus.“

Johanna betrachtet die Wörter. Vermutlich „Ozean“, und das dort, „Afrika“. „Sie hegen eine ganz besondere Leidenschaft. Im Studium belegte ich ein Semester Sprachkunde und einen Sprechstimmbildungskurs. Auch mal Lesen, habe aber nie weitergemacht.“

Die Lady zieht sie weiter „Kommen Sie zu diesem Regal! Lesen Sie, lesen Sie!“

Namen von Schriftstellern, Unterschriften historischer Persönlichkeiten, Bilder von digitalzeitlichen Graffitis. Natürlich kann Johanna nicht alles entziffern. Sie treibt wie im Rausch von Buch zu Brief, zu Tonbandaufnahmen und absonderlichen Kommunikationsgeräten. Widerwillig gesteht sie sich ihre Faszination ein. „Wie im Museum!“

„Oder auf einem Friedhof“, erwidert die Lady.

Kaffee wird serviert, dann wieder Whiskey. Nach kurzem Schweigen öffnet Johanna ein neues E-pathie-Gedankenfeld. „Was Sie getan haben, steht unter Todesstrafe. Dabei ist Sprache eigentlich ein friedliches Hobby, oder?“

„Dass die Sprachen ausgestorben sind, ist unverzeihlich. Das ist das eigentliche Verbrechen! E-pathie macht uns schläfrig, wir verarmen geistig. Oh, wie bequem! Ganz ohne Lärm, man muss nicht schlau sein oder sich anstrengen. Damit haben wir das, was unsere Vorfahren über Jahrtausende entwickelt haben, einfach ersetzt. Ist das keine Schande? Der ˏWortschatz´, sehen Sie … unsere Vorfahren wussten um den Wert der Wörter, sie waren ihnen heilig. Den Schatz haben wir einfach versenkt, die Sprache zugunsten der Technik und unserer Bequemlichkeit aufgegeben.“

„Aber die Vorstellung, nur mit einer Handvoll Menschen sprechen zu können, weil wir zufällig die gleiche Sprache sprechen, ist doch belastend. Viele Kriege der Digitalzeit hätte es ohne Sprachbarrieren nicht gegeben. Gefühle mussten die Menschen umständlich in Sprache packen, konnten sie nicht einfach telepathisch zeigen. Fremdsprachen zu lernen dauerte Jahre. Die Zeit nutzen wir heute weitaus effektiver.“

„Ja wissen Sie, mit so einem Studium zeigte der Mensch auch wahre Solidarität und Interesse. Sprechen als Opfer an den Mitmenschen, und geistige Regsamkeit. Von den heute verkümmerten Stimmbändern ganz zu schweigen. Wir verstümmeln uns freiwillig.“

Johanna zögert. „Mein Mann ist taubstumm, in der Digitalzeit galt das als Behinderung. Durch E-pathie ist Kommunikation für ihn kein Problem.“

„Für ihn hat der Telepathie-Chip einen Sinn. Nur, das Kollektiv ist zu faul zum Sprechen, könnte das nicht sein?“

Es ist so weit. Johanna hakt ein: „Das wollten Sie den vier entführten Kindern also austreiben? 15 Jahre lebten sie gefangen auf dem Alten Planeten, seit ihrer Rettung befinden sie sich auf Mars 273. Sie sind körperlich gesund, Interviews können womöglich in einigen Jahren stattfinden. Wie stehen Sie zu Ihren Menschenversuchen? Was steht Ihrer Meinung nach über dem Recht auf Freiheit?“

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„Sie formulieren das sehr einseitig. Ich sage es Ihnen. Zu Anfang des Projekts waren die vier Zwillinge Babys. Keine Mütter. Es war seit Jahrzehnten geplant, sie kamen in beste Hände. Besser umsorgt als die Wilden Erdenkinder in den Alten Städten heute. Nur ohne Implantation des E-pathie-Chips. Dafür lernten sie zu sprechen.“ Die Lippen der Lady zittern.

„Sie haben damit über vier fremde Leben verfügt. Die Jugendlichen sind nicht sozialisiert, haben nie E-pathie erlernt. Wie meistern sie ihr künftiges Leben mit uns? Sie können also sprechen. Sprechen! Eine archaische Fähigkeit, niemand sonst kann das. Ein lebender Witz? War das die Absicht?“

„Vorsicht, junge Frau. Schauen Sie, Sie können mich nicht verstehen. Auf dieser Welt hat Empathie keinen Wert. Auch Wissen nicht. Es ist zu billig. Wir müssen uns nie in unsere Mitmenschen hineinversetzen. Das übernimmt die Technik. Ein Willensimpuls! – und Wissen aus allen Welten prasselt in unser vertrocknetes Gehirn. Ein Energieschub: Wir sehen, wie der Tag unseres Partners verlief. Unsere Vorfahren mühten sich ab, rangen nach den passenden Worten, um Erlebtes in Töne zu verwandeln, weiterzugeben, und reich waren die mit großem Wortschatz. Wir schenkten unseren vier Kindern die Chance, ihre eigene Stimme und Sprache zu entwickeln wie ihre Vorfahren.“

„Und hatten Sie mal Skrupel?“

„Unsere betreuenden Professoren waren die hingebungsvollsten Sprach-, Sing- und Wortkünstler im Sonnensystem. Von vier Planeten kamen sie. Charme, Humor, ein großes Herz. Das war mir wichtig. Für die Kinder.“

„Wie hätte es denn enden sollen?“

Das Whiskeyglas in der Faust der Lady knirscht. Ein Blutstropfen fällt in ihren Schoß.

„Es endete zu früh. Ihre Intelligenz … ihr Mitgefühl, ihr Sprechen und, irgendwann, ihre Schriften hätten es der Welt bewiesen. Dass wir die Worte wieder brauchen.“

„Danke für das Interview.“ Fünfzehn Minuten E-pathie. Zwei Stunden vor tausend Jahren.

woman 3083390 1920In einer Kapsel geht es heimwärts. Johanna mustert ihr Spiegelbild. Sie haucht dagegen. Einatmen, ausatmen. Kehlmuskeln spannen, Luft rauspressen. Krächzen. Ein Ton erzittert an ihrem Gaumen. „JO-HAN-NA.“