Kurzgeschichtenwettbewerb »magnetisch«
Diese Geschichte von Ferenc Liebig wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »magnetisch« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.
Der Autor
Ferenc Liebig wurde am 6. Mai 1983 in Potsdam geboren und lebt seitdem in dieser Stadt. Als Schriftsteller nimmt er an zahlreichen Lesungen teil, inszenierte ein Theaterstück mit dem Titel »Väter« und veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und mehreren Anthologien. Vor ein paar Jahren ist er Vater geworden und schaut in seiner Freizeit seinem Kind beim Wachsen zu. Wenn es schläft, liest oder schreibt er.
Geleitwort der Jury
Magnetismus als physikalisches Phänomen, die Kraftwirkung zwischen Magneten, ist leicht erklärt. Weniger leicht erklärbar sind die gefühlt magnetischen Situationen im Leben. Die unwiderstehliche Anziehung zwischen zwei Menschen, die oft nicht zu überwindende Abstoßung, das Schicksal, das uns unbeirrt in eine bestimmte Richtung zu lenken scheint … Wir jedenfalls wurden angezogen von der magnetischen Wirkung der Wettbewerbsbeiträge. Die besten sind in unserem neuen Band versammelt. Sie interpretieren das Motto auf unterschiedlichste Weise, immer aber mit Sogwirkung.
Ferenc Liebig: Ständiger Begleiter
Ich wusste nicht, dass er raucht. Ich wusste auch nicht, dass er so häufig seine Haare kämmt. Über die anderen Angewohnheiten möchte ich mich erst gar nicht äußern. Jemandem so nah zu sein, kann nur dazu führen, ihn zu verachten. Er las eine Publikation über Entmagnetisierung und sprach von Temperaturfenstern, Hysteresekurven, Flussdichten und Strompotentialen. Vielleicht wäre eine mechanische Erschütterung die Lösung, sagte er mehr zu sich und tippte mit dem rechten Zeigefinger auf einen Punkt im Diagramm, der mir doch recht wahllos erschien. Ich fragte ihn, wie er sich das Beben vorstellen würde, wie er uns in Schwingung versetzen möchte. „Mit seinem ausladenden Hüftschwung?“ Er reagierte auf meinen Sarkasmus mit einer für ihn typischen Geste, die das Ballen seiner Fäuste mit einem übertriebenen Augenaufreißen verbindet. In dieser Verfassung schaut er wie ein bockiges
Kind aus, dessen hochroter Kopf zu platzen droht. Die Situation ereignete sich zwei Tage danach. Als man uns noch nicht abgeholt hatte. Aber eins nach dem anderen. Lassen Sie mich zum Einstieg mit einer Zusammenfassung starten. Sie werden überrascht sein, was abseits Ihrer Wahrnehmung passiert. Wir sprechen über das Jahr 1993, eine kleine Universität, deren Lehrstuhl für Naturwissenschaften eher dürftig ausfällt und die sich bisher weder durch relevante Publikationen noch visionären Forschungsthemen einen Namen gemacht hat. Mein nicht immer geschätzter Kollege Dr. Seifenbacher, durch seine übertriebene Kleinlichkeit und einem überaus peniblen Ordnungszwang bestens bei den Studenten bekannt, zeigte mir Anfang Mai einen Versuchsaufbau mit schwebenden Objekten in einem Magnetfeld. Was allerdings ungewöhnlich war, dass die Objekte unabhängig von der Stärke des Magnetfeldes in der gleichen Position verblieben. Am ehesten könnte man es mit einem Kühlschrankmagneten erklären, der einen Notizzettel hält. Wenn man nun anstatt eines
Notizzettels etwas weitaus Schwereres anheftet, reicht die Kraft des Magneten aus und beides fällt zu Boden. Aber plötzlich konnte ein schwacher Magnet etwas sehr Schweres halten. Um dies zu erreichen, hatte Dr. Seifenbacher verschiedene Objekte ausprobiert, die auch nach Reduzierung des Magnetfeldes ihre magnetischen Eigenschaften beibehalten sollten. Durch Zufall, sagte er, und zeigte mir einen daumengroßen, matten Gegenstand, hätte er dies hier verwendet. Und es funktionierte. Im nächsten Schritt sollte der Magnet ohne Einbuße der magnetischen Kraft vollständig entfernt werden. Dafür musste der daumengroße Gegenstand in Form und Material angepasst werden. Infolge zahlreicher Experimente sahen wir die Möglichkeit, ein System zu entwickeln, das sich ohne kontinuierlichen Aufwand selbst erhielt. Ich will an dieser Stelle nicht zu weit ins Detail gehen, aber theoretisch wurde in zahlreichen
Abhandlungen nachgewiesen, dass eine Umsetzung nicht realisierbar ist. Unsere Daten zeigten jedoch ein komplett anderes Bild. Zwei Jahre hatten wir nichts anderes gemacht, als eine Lösung für diesen Widerspruch zu finden. Bis wir schließlich akzeptierten, eine bahnbrechende Methode zur Energieerhaltung entdeckt zu haben. Für uns galt nun, unseren Befund zu validieren. Ich habe den Tag noch genau vor Augen, als wir spannungsgeladen und voller Hoffnung nebeneinanderstanden. Zu den vorigen Versuchsaufbauten hatten wir nur minimale Veränderungen vorgenommen, aber in dem Moment, als Dr. Seifenbacher den Schalter umlegte, kam es unerwarteterweise zu einem lauten Knall und für den Bruchteil einer Sekunde vernahm ich ein helles Licht an der Magnetquelle und in dem Licht konnte ich eine andere Welt erblicken, als wäre das Licht ein Zugang zu einem Paralleluniversum. Und schon war das Licht erloschen, als hätte es gar nicht existiert. Dr. Seifenbacher starrte mich erschrocken an. Ich fragte ihn, ob er auch die andere Welt gesehen hätte, aber er hatte sie nicht gesehen. Anstatt mehr von mir erfahren zu wollen, was sich genau in dem Licht abgespielt hat, tastete er nur ängstlich seinen Oberkörper ab. Noch nie zuvor hatte ich
einen Menschen so panisch erlebt. Jede Farbe war aus seinem Gesicht verschwunden. „Spürst du das nicht“, schrie er. „Was spüren?“ Dann sah ich es. An mehreren Stellen schienen wir zusammengeschmolzen, die Haut punktuell vereint. Wir wissen noch immer nicht, wo wir den Fehler gemacht haben, denn auch nach mehrfacher Prüfung der Berechnungen, erzielen wir die gleichen Ergebnisse. Wir sprechen über eine ungeheure Anziehungskraft, die bei spätestens einer Distanz von drei Zentimetern zwischen unseren Körpern so stark ist, dass wir sofort wieder aneinanderdrückt werden. Die Liste an durchgeführten Versuchen, unsere Körper weit genug voneinander zu entfernen oder das Magnetfeld so stark zu schwächen, dass eine Trennung möglich ist, hat eine unüberschaubare Länge angenommen. Wenige Tage nach der Katastrophe tauchte eine mir bis dahin unbekannte staatliche Agentur auf, ließ uns Geheimhaltungsverträge unterschreiben und brachte uns für weitere medizinische Untersuchungen in einer sterilen Einrichtung in den Bergen unter. Wir seien nicht die ersten,
wurde uns vor Ort gesagt, die nach einem Vorfall, so bezeichnete also die Regierung die Begebenheit, spezielle Symptome aufweisen. Der Geruch von Kunststoff hängt in den Gängen. In einem Seitenflügel beherbergt, werden wir täglich ins Hauptgebäude gebracht, um für
neue Analysen zur Verfügung zu stehen. Fast 20 Jahre schon kommen ständig neue Forschende, nehmen Proben von Blut und Hautschuppen, schneiden uns auf, nähen uns wieder zusammen, verabreichen uns Substanzen, injizieren Flüssigkeiten, überwachen mit unzähligen Sensoren unsere Körperfunktionen. Dr. Seifenbacher hat sich im Gegensatz zu mir als erstaunlich kooperativ herausgestellt, der viele Tests mit Wohlgefallen über sich ergehen lässt und fast jede freie Minute damit zubringt, sich in neueste Studien einzulesen und kurioseste Annahmen zu verfassen. Er erhofft sich zudem, dass der Umstand unserer physischen Nähe amouröse Gefühle zutage fördern könnte. Ich erwische ihn immer wieder, mich mit gespielter Zufälligkeit zu berühren. Erst gestern täuschte er nach einer Tasse im oberen Regal greifend ein Taubheitsgefühl vor und ließ seine Hand langsam über meinen Oberkörper rutschen. Meine Vorwürfe tat er als Wahnvorstellungen ab. Als würde er sich für mich interessieren, wo doch viel attraktivere Damen sich seinem Körper widmen würden. Wenn auch nur wissenschaftlich. Nicht nur einmal habe ich überlegt, ihn umzubringen. Aber was würde dann passieren?
Mittlerweile erinnere ich mich kaum noch an den schönsten Augenblick
in meinem Leben, als das gleißende Licht den Zugang zu einem
anderen Universum offenbarte. Um dem Vergessen zuvorzukommen,
musste ich die Geschichte hier aufschreiben. Ich frage mich noch immer,
was passiert wäre, hätte ich es rechtzeitig ins Licht geschafft.