Literareon

»Kunterbunte Klangwelten in Banglaland«

Diese prämierte Geschichte von Olivia Schmid wurde im Gewinnerband »kunterbunt« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

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Die Autorin

Bereits während der Schulzeit bedachte Olivia Schmid ihre Lehrer regelmäßig mit fantasievollen Aufsätzen. Nach dem Studium der Ethnologie und der Musik arbeitete sie kurzzeitig als freie Journalistin, fand dann jedoch eine Anstellung im Wissenschaftsmanagement. Trotz des beruflichen Wechsels blieb das Schreiben fester Bestandteil ihres Lebens. Zuerst in Form von Reiseberichten, später kamen Kurzgeschichten hinzu. Im Sommer 2014 vollendete sie ihr zweites Kinderbuch, das nächstes Jahr erscheinen soll. Olivia Schmid lebt in einem kleinen Städtchen in Süddeutschland und träumt von einem Haus am Meer. Mehr von Olivia Schmid finden Sie auf ihrer Website.

Geleitwort der Jury

Wir könnten uns keine Welt ohne Farben vorstellen – oder haben wir uns schon längst daran gewöhnt? Wie wäre es, in einer grauen Welt zu leben? In einer Welt, in der jegliche Farbe aus dem Leben der Menschen entfernt wurde? Könnten wir dort leben? Wir laufen oft Gefahr, alles gleich zu gestalten: Unseren Alltag, unseren Stil, unsere Lebensweise. Da tut Abwechslung not. Verleihen wir also unserem Leben mehr Farbe.

Schon Pippi Langstrumpf fühlte sich in der Villa Kunterbunt wohl. Und kunterbunt treibt es nun auch unser Kurzgeschichtenwettbewerb: kunterbunt wie die Träume eines Raben; kunterbunt wie die Sorgen eines Frosches; kunterbunt wie die Farben eines Gemäldes, die Farben der Liebe, des Glücks; kunterbunt wie die Klänge der Musik. Ja, der literarische Wind wehte viele bunte Beiträge zu unserer Verlagstür herein. Aus der Fülle dieser Beiträge konnten wir uns kaum für die Gewinner entscheiden; so viele Geschichten waren inspirierend und beeindruckend. Manche dieser kurzen Storys verzauberten uns aber ganz besonders, ließen uns in kunterbunte Welten eintauchen.

Mit dem vorliegenden Buch wollen wir dieses Gefühl auch an unsere Leserinnen und Leser weitergeben. Entfliehen Sie der tristen, grauen Alltagswelt und bekennen Sie Farbe!

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Kunterbunte Klangwelten in Banglaland

india 978488 1920Nedas Füße brannten. Ihr Rücken schmerzte. Jede Bewegung fühlte sich an, als ob sie die Tonnen eines Kleinlasters hinter sich her schleppte. Wenn sie doch nur Muskeln hätte wie diese Riesen, die sie einmal auf den flimmernden Fernsehschirmen eines Elektrogeschäftes im Banani-Viertel gesehen hatte. Lastwagen, groß wie Eisenbahnwagons, hatten diese hinter sich hergezogen, und einzig ihr rotes Gesicht und die hervortretenden Muskelstränge hatten verraten, dass es ihnen nicht ganz so leicht fiel wie es den Anschein erweckte. Sie hingegen mühte sich mit einem simplen Müllsack ab. Neda blickte an ihrem Körper herunter. Dürr wie ein Bambusrohr und flach wie ein Nan-Fladen. Ihre Mama behauptete, dass würde noch werden, schließlich war sie erst 12. Aber Neda hatte da wenig Hoffnung.

Der prall gefüllte Müllsack wog schwer in ihrer Hand und machte bei jedem ihrer Schritte scheppernde Hüpfer über den staubigen Boden. Wenigstens war die Schinderei die Mühe wert gewesen. Sie hatte einige wahre Perlen aus dem Müll zutage gefördert. Verhandelte sie geschickt mit Hasan, dem Müllmann, würde es reichen, um auf dem Rückweg Samosa und frische Zuckerrohrlimonade für ihre Eltern und Geschwister zu kaufen.

Es dämmerte. Über ihr kreisten bereits die ersten Flughunde. Wenn sie einen Schritt zulegte, war sie vielleicht noch vor Einbruch der Dunkelheit bei Hasan. »Jetzt mach schon, Omar, wir sind spät dran!«, tadelnd blickte sie auf ihren vierjährigen Bruder, der erschöpft neben ihr her zuckelte. Neda verstärkte den Griff um seine Hand und zog ihn entschlossen mit sich.

Die Fenster der imposanten Villen zu beiden Seiten der Straße waren hell erleuchtet. Im Vorbeilaufen betrachtete sie die Häuserfronten. Vor ihrem inneren Auge sah sie lachende Kinder, rundbäckig und von hellem Teint – nicht so wie sie, schwarzbraun verkohlt vom Müllsammeln unter praller Sonne. Sie sah die Dame des Hauses in einem atemberaubend schönen Sari voll funkelnder Stickereien. Einem Sari, wie ihn sich ihre Mama niemals würde leisten können. Sie sah weitläufige Zimmer mit opulenten Sofagarnituren, glänzenden Glastischen und filigran verzierten Kommoden, modernen Stereoanlagen und kristallenen Leuchtern, die jeden Raum in goldenes Licht tauchten.

Wie oft hatte sie sich die Nase plattgedrückt an den Auslagen jener Geschäfte, in denen wohlhabende bengalische Familien ihre Einrichtung zusammenstellten. Schon der Frühstücksteller eines Services dort kostete mehr als ihr Vater in einem Monat als Rikscha-Fahrer verdiente.

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Neda blieb stehen. Der Müllsack entglitt ihrer Hand. Die ganze Plackerei für eine Handvoll Samosa mit Zuckerrohrlimonade?! Die Begeisterung über den erfolgreichen Müllfund zerstob. Ihr Körper brannte, so sehr tat alles weh. Von Kopf bis Fuß kein einziger Muskel, kein Nervenstrang, der sie nicht schmerzlich daran erinnerte, dass sie bereits seit dem Morgengrauen auf den Beinen war. Niedergeschlagen ließ Neda ihren Blick schweifen. Zu ihrer Linken erhob sich ein hoher Gitterzaun. Dicht gewachsene Büsche verdeckten das dahinter liegende Anwesen.

Da plötzlich vernahm sie fremdartige Klänge. Was war das für Musik?

Neda ließ Omars Hand los und machte neugierig einen Schritt auf den Zaun zu. Lauschte. Dunkle sonore Basstöne formten einen vibrierenden Klangteppich, der so gar nichts gemein hatte mit der Bangla-Musik, die Neda kannte. Überrascht hielt sie inne.

Und mit einem Mal sah sie es. Braun. Viel Braun. Eine erdige Wolke, die sich vor undurchdringbarem Schwarz aufbaute. Neda runzelte die Stirn. Was war mit ihr los?

Weitere Klänge traten hinzu und formten pulsierende gelbe Punkte. Neben der Wolke bildeten sich blutrote Löcher. Und dann löste sich aus dunklem Braun eine Melodie, die so zart klang, dass Neda erschauerte und sich die Härchen auf ihrem Unterarm aufstellten. Als orangener Faden schwang sich die Tonfolge aus der braunen Wolke empor, immer höher hinauf, und erblasste dabei zu pastellenem Apricot.

Neda vergaß ihre brennenden Fußsohlen, den schmerzenden Rücken, vergaß Omar, der sich vollkommen ermüdet neben ihr auf den Boden hatte plumpsen lassen. Die Musik schwoll an, die Stimmen überlagerten sich. Und je höher die einzelnen Töne, desto heller die Farbnuancen. Tanzende, kunterbunte Formen schoben sich ineinander, Ellipsen und Kegel, Punkte und Röhren, eine scheinbar unerschöpfliche Fülle brauner, gelber, roter und orangener Schattierungen. Wie erstarrt stand Neda am Zaun, elektrisiert von den Klängen, die der Schall über das Anwesen hinweg zu ihr trug.

»Neda, was hast Du denn?«, Omar musste aufgestanden sein, denn plötzlich spürte sie seine kleine Hand in der ihren.

»Siehst du die Farben?«, stammelte sie.

»Welche Farben? Neda, bist du krank? Ich will nach Hause!«, Omars dünne Stimme zitterte und der Druck seiner Hand verstärkte sich. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

Neda hatte jegliches Zeitgefühl verloren. In Farben versunken, unfähig sich zu bewegen, hielt sie Omars Hand. Da plötzlich verstummte die Musik und, einem Regenschauer gleich, der auf Glas trifft, perlten die Farben von dem schwarzen Hintergrund ab.

Um sie herum herrschte dunkle Nacht. Ihre Zunge fühlte sich geschwollen und pelzig an. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Neda erinnerte sich, dass sie vor nicht allzu langer Zeit Ähnliches erlebt hatte. Bei der Geburtstagsfeier von Sara, als die Männer ein traditionelles Lied angestimmt hatten. Und an dem Morgen, als sie vor Dipaks Laden gesessen und Radio gehört hatte. Doch niemals zuvor war der Farbrausch derart intensiv gewesen. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Da fing sie Omars verängstigten Blick auf.

»Alles in Ordnung, komm!«, presste sie mühsam heraus und schweigsam traten sie den Heimweg an. Neda vergaß Hasan, das Samosa, die Zuckerrohrlimonade. Gedankenversunken schleppte sie sich heimwärts, während Omar neben ihr her tippelte und ihr dabei besorgte Blicke zuwarf.

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»Neda, Omar! Wo seid ihr denn so lang gewesen?«, besorgt eilte ihre Mutter ihnen entgegen, als sie die beiden am Ende der Straße entdeckte.

»Mama, Neda ist krank! Sie sieht Farben!«, in seiner Aufregung vergaß Omar seine Müdigkeit und begann seiner Mutter eifrig von Nedas seltsamem Verhalten zu erzählen.

»Farben?«, fragend richtete sich der Blick ihrer Mutter auf Neda. Dann lächelte sie milde: »Du also auch, mein Kind …« Zärtlich strich sie Neda eine dicke Locke aus dem Gesicht. Neda roch die feine Nuance Patchouli, die der Körper ihrer Mutter verströmte.

»Komm, erzähl mir alles«, forderte sie Neda auf, ergriff ihre Hand und dirigierte sie sanft zu ihrer Hütte.