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»Kathrin«

Diese Geschichte von Max Osswald wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »Zauber« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

osswald Autorenfoto

Der Autor

Max Osswald, geboren 1992, kommt ursprünglich aus der Nähe von Stuttgart. Nach dem Abitur absolvierte er ein freiwilliges soziales Jahr sowie ein BWL-Studium. Seit Januar 2017 arbeitet er als Volontär in der Story-Abteilung einer Daily Soap in München. 

Weitere Infos zum Autor finden Sie auf seiner Website.

Geleitwort der Jury

Das Wort »Zauber« mag ein einfaches, kurzes sein. Und doch können sich ganze Welten dahinter verbergen. So überrascht es kaum, dass die Beiträge, die uns für unseren Kurzgeschichtenwettbewerb zu dieser Thematik erreichten, so breit gefächert sind wie selten zuvor.

Wie jedes Jahr waren viele Geschichten dabei, die uns berührt haben und die uns zum Schmunzeln oder auch zum Nachdenken gebracht haben. Dies spiegelt sich auch in der Auswahl, die wir Ihnen, lieber Leser, mit diesem Buch an die Hand geben möchten wider:

Die Geschichten sind mal lustig, mal tragisch; ihre Helden mal verzweifelt, mal tapfer. Große Zauberer treten auf, aber auch die Menschen, die in der Lage sind, unser tägliches Leben um magische Momente zu bereichern. Der Zauber erscheint als Macht, die uns voneinander trennen oder uns verbinden kann und die uns vor allem immer wieder staunen lässt.

Also lassen Sie sich – wie es auch uns ergangen ist – von den folgenden magischen Begebenheiten in ihren Bann ziehen.

 

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Kathrin

Er fühlte sich wie im falschen Film, denn so hatte er sich das Ende nicht vorgestellt. Er wusste, dass sie sich beide bereits im letzten Akt befanden, trotzdem wollte er es nicht wahrhaben.

Er stand mit wackligen Knien an ihrem Krankenbett. Dort lag sie. Kathrin, seine Frau. Er erinnerte sich daran, wie sie sich kennengelernt hatten. Damals, am Badesee, vor 60 Jahren. Sie hatte ihm bereits mit ihrem ersten Lächeln alle Sinne geraubt. Bis die Nacht hereinbrach, lagen sie zusammen im Gras. Küssten sich. Sprachen über die Zukunft.

Er konnte sie vor seinem inneren Auge sehen, wie sie da lag, in ihrer vollen 22-jährigen Blüte. Doch das immer schneller werdende Piepen des EKGs riss ihn aus seiner Erinnerung. Nun sah sie anders aus. Die Jugendlichkeit war aus dem Gesicht verschwunden. Ihr weißes Haar hatte beinahe dieselbe Farbe wie die Bettwäsche. Er setzte sich.

Obwohl sie beide Romeo und Julia für die schrecklichste Liebesgeschichte aller Zeiten hielten – aber für eine ihrer liebsten Komödien –, sagten sie sich einander vor zwei Jahren, halb im Scherz und halb im Ernst: »Ohne dich will ich nicht mehr.« Sie redeten auch davon, in Würde gehen und nicht ans Bett gefesselt sein zu wollen. Geistig noch voll da, noch voll selbstständig und lebensfähig sein zu wollen, bis es sie erwischt. Kurz und schmerzlos sollte es sein.

Das war vor der Diagnose. Kathrin hatte Krebs.

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Er mochte keine Krankenhäuser. Die fürchterliche Sterilität der Einrichtung und der Wände, in ihrem blendenden Weiß, brachten ihn jedes Mal zum Schaudern. Die Dialysetermine. Die Besprechungen mit Ärzten. Sie zu beobachten, wie sie immer weiter abbaute. All das war sehr schwer für ihn. Für die gesamte Familie.

Kathrin war schwach. Sie bekam kaum noch ein Wort heraus. Er saß nur da, hielt ihre Hand und starrte in ihre Augen. In ihnen verlor er sich seit dem ersten Tag. Die restliche Familie, die das gesamte Zimmer ausfüllte, blendete er völlig aus. Alle waren sie gekommen. Bis auf ihre älteste Enkelin.

Kathrin war die Mama und Oma, die die gesamte Familie zusammenhielt. Die Streitschlichterin. Die Seelsorgerin. Die bedingungslose Unterstützerin. Wenn man sich in den Wirren des Lebens verlor, am Boden zerstört war oder scheinbar alle Hoffnung dahinschwand, fühlte man sich nach einer Stunde mit ihr wie neugeboren. Sie hörte einem wirklich zu. Sie nahm einem die Last von den Schultern. Sie gab einem ein Gefühl von Leichtigkeit. Mit ihr fühlte man sich stark. Sie zauberte einem immer ein Lächeln auf die Lippen. Als hätte sie eine magische Formel für das Leben.

Doch nun schien es, als sei ihre Stunde gekommen. Ihr Sohn trat näher ans Bett. Seine Frisur war zerzaust, da er sich seit Stunden immer wieder mit den Händen durch die Haare fuhr. Er schluchzte. Seine Augen wurden immer wässriger. Dass er seit nunmehr fünfzehn Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angefasst hatte und damit seine Ehe und Familie intakt halten konnte, hatte er nur Kathrin zu verdanken. »Du allein bist für dein Leben verantwortlich. Ich sag’ dir nicht, was du tun sollst und was nicht. Ich bin nur eine alte Frau. Leb’ dein Leben einfach so, dass du auf dich selbst stolz sein kannst«, sagte sie damals zu ihm. Als er sie anblickte, dort, in ihrem Bett, und diese Sätze innerlich Revue passieren ließ, brach er in Tränen aus und verließ das Zimmer. Kathrins Mann schaute ihm hinterher. Er wusste, wie viel sie ihm bedeutete.

Ihr Zustand verschlechterte sich im Minutentakt. Als könnte man die Sanduhr ihres Lebens beim Herunterrieseln der letzten Körner beobachten. Und das taten sie, die ganze Familie. Korn für Korn. Sie beobachteten das Unausweichliche.

Kathrin, die schier regungslos, jedoch mit hellwachen Augen dalag, bewegte plötzlich die Lippen. Alle traten näher, um zu hören, was sie zu sagen hatte. Sie sah jeden Einzelnen an. Das leise »Danke«, das sie herausbrachte, konfrontierte alle im Raum damit, dass es gleich so weit sein sollte.

Völlig vereinnahmt vom bevorstehenden Verlust der Ehefrau, Mutter und Großmutter, die sie alle so liebten, schreckte die gesamte Familie auf, als ihr Sohn auf einmal zur Tür hereinplatzte. Er hielt ein Neugeborenes im Arm. »Schau mal, Mama. Deine Urenkelin«, sagte er unter Tränen zu ihr. Ihre älteste Enkelin hatte gerade im selben Krankenhaus entbunden. »Sie sagte mir, sie habe sie nach dir benannt. Ihr Name ist Kathrin.«

Die kleine Kathrin schrie. Ihr Sohn hielt ihr das Neugeborene hin, Kathrin war jedoch zu schwach, um sie selbst zu nehmen. Als ihre alten und knochigen Hände die der kleinen Kathrin berührten, beruhigte sich diese und hörte auf zu schreien.

Kathrins Augen fielen langsam zu, ihre Hand senkte sich wieder. Ihre Lippen formten ein Lächeln. Es war, als hätte jemand die Sanduhr wieder umgedreht.

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