»Kaffeepause«
Diese Geschichte von Eva Hofius wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »Energie« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.
Die Autorin
Eva Hofius wurde 1998 in Tübingen geboren und ist dort aufgewachsen. Nach dem Abitur am Wildermuth-Gymnasium verbrachte sie über ein Jahr in Neuseeland und Südostasien. Seit 2020 studiert sie Deutsch und Französisch an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Neben dem Studium singt Eva Hofius in der Band »The Melikas« und schreibt unter anderem auch eigene Songs.
Geleitwort der Jury
Energie in ihren vielfältigen Erscheinungsformen regt biochemische Prozesse an, sie ermöglicht Bewegung und lässt Hitze und Licht entstehen. Ohne Energie wäre unser Sonnensystem, unsere Erde, mithin unser natürlicher Lebensraum niemals entstanden, ein Leben ohne Energie wäre schlichtweg undenkbar. Dabei übersteigt der Energiebedarf unserer heutigen, hochtechnisierten Welt bei weitem das, was frühere Generationen zum Leben brauchten. Gleichzeitig hat der Mensch neue Mittel und Wege gefunden, Energie zu gewinnen – nicht selten mit katastrophalen Folgen für Natur und Umwelt. Hier drängen sich Parallelen zum Mythos des ebenso listigen wie hochmütigen Prometheus auf, der Philosophen und Schriftsteller seit jeher fasziniert hat. Die Geschichte des Titanen, der den Göttern das Feuer raubte, es den Menschen brachte und dafür schließlich auf grausame Weise bestraft wurde, erhält angesichts unseres prekären Umgangs mit natürlichen Ressourcen und unseres nahezu ungezügelten Energieverbrauchs eine erschreckende Aktualität.
Das Wort »Energie« lässt aber auch an die Kraft und Motivation denken, die wir benötigen, um die Hürden des Alltags zu bewältigen. So etwa können Haushaltsführung, Stress am Arbeitsplatz, familiäre Konflikte und Erkrankungen an unseren Energieressourcen zehren, bis wir uns völlig leer und ausgebrannt fühlen. Demgegenüber braucht es oft nur eine unverhofft positive Nachricht, das Lächeln eines Kindes oder ein aufmunterndes Wort des Lebensgefährten, um uns einen regelrechten Kick zu geben und uns neue Lebensenergie schöpfen zu lassen.
Die eingesandten Kurzgeschichten zum Wettbewerbsthema »Energie« spielen mit der Vielschichtigkeit dieses Begriffs und zeigen, wie kostbar Energie in allen Lebensbereichen ist. Dabei richtet sich der Blick ebenso auf die Ursachen und Konsequenzen chronischer Energielosigkeit wie auf die besonderen Momente, die ungeahnte Energie und Lebenslust in uns freisetzen.
Und so hat unser Team viel Energie darauf verwendet, unter den zahlreichen Einsendungen die ergreifendsten, gefühlvollsten, aber auch die mitreißendsten Geschichten auszusuchen und für Sie zusammenzustellen.
Wir freuen uns, Ihnen in diesem Band eine Auswahl dieser Kurzgeschichten präsentieren zu dürfen, und wünschen Ihnen eine vergnügliche Lektüre.
Ihre Jury
»Kaffeepause«
Ich bin immer noch nicht aufgestanden. Nur ein paar Minuten für mich. Rollladen hoch, einmal die Sonnenstrahlen auf meiner Haut spüren. Ganz alleine.
Sein erster Call beginnt, Smalltalk über das Wetter und das letzte Fußballspiel. Unsere Wohnung ist nicht klein, aber sie fühlt sich so an.
Meine erste Zoom-Sitzung beginnt bald. Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Ich werfe einen Blick nach draußen, auf das, was ist, das, was sein könnte. Demnächst gehe ich vielleicht wieder raus. Aber hier drinnen trage ich immer Jogginghosen, weil es gemütlicher ist und man ja keinen Grund mehr hat, rauszugehen.
Ich gehe in unsere Wohnküche und bemerke auf dem Weg, dass er die Arbeitszimmertür wieder einen Spalt offen gelassen hat, ich schließe sie, während er weiter mit seinen Kollegen redet. Jetzt ist es ruhiger.
Ich habe keinen Appetit, esse aber etwas, um meine Sitzung zu überstehen.
Während des Seminars kommt er rein und macht sich einen Kaffee. Die Kaffeemaschine ist laut und ich verstehe kein Wort mehr. Er kann nichts dafür, dass ich die Veranstaltungen in unserer Wohnküche besuche und er nun mal viel Kaffee braucht. Das Seminar ist beendet.
Er will mich küssen, aber ich neige mich ab. Er erzählt mir von seinen tollen Zahlen, die ich nicht verstehe. Ich versuche zuzuhören und interessiert zu wirken, damit er am Ende nicht wieder enttäuscht ist, dass ich mich nicht erinnere.
Ich gebe Bescheid, dass ich heute vielleicht raus gehe, um einen Spaziergang zu machen. Er freut sich und sagt, er komme mit. Als ich ihm sage, dass ich gerne allein gehen würde, wirkt er enttäuscht.
Er geht wieder ins Arbeitszimmer und ich habe das nächste Seminar. Ich höre ihn wieder mit seinen Kunden telefonieren, über das Fußballspiel und die tollen Zahlen. Es ist nicht schlimm. Ich muss ja nichts sagen. Das ganze Seminar über bin ich stumm geschaltet. Nach dem Seminar klappe ich den Bildschirm zu. Als ich ins Bad gehe, bemerke ich auf dem Weg wieder, dass die Arbeitszimmertür einen Spalt offen ist. Ich schließe die Tür. Danach gehe ich zurück in unsere Wohnküche.
Mit dem Blick schweife ich die Wände entlang über die Einbauküche, mit den vielen Schubladen. Die Küche war so schön, als sie noch neu war. Damals waren die Inhalte der Schubladen und Schränke so gut sortiert, dass man alles auf Anhieb gefunden hat, was man gesucht hat. Ich wusste damals genau, wo meine und wo seine Tassen stehen. Die Ordnung unserer Tassen war ihm nicht so wichtig. Und von außen sieht man ja sowieso nicht, ob unsere Tassen sortiert sind. Nicht einmal wenn der Schrank offen wäre, würde man wissen, welche Tasse wem gehört. Wir wissen es auch nicht mehr.
Er kommt aus dem Arbeitszimmer und verbringt wieder seine Kaffeepause mit mir. Er küsst mich auf den Mund und ich lasse es zu. Ich überlege, ihn auf die Ordnung unserer Tassen anzusprechen, aber dazu habe ich nicht die Energie. Er redet. Nach der Kaffeepause geht es ihm besser. Er braucht keine Zigarette zu seinem Kaffee, er braucht nur mich dazu.
Er ist aufgeweckt.
Ich bin müde.
Er geht zurück ins Arbeitszimmer und ich gehe zum Fenster. Unsere Fenster haben keine Griffe. Ich höre, dass die Arbeitszimmertür wieder einen Spalt offen ist. Die Sonnenstrahlen sind nicht dasselbe ohne die frische Luft. Ich werfe einen Blick nach draußen, auf das, was sein könnte. Das Fenster habe ich schon lang nicht mehr geputzt und die Scheibe wirkt viel dicker als sonst. Vielleicht gehe ich heute raus, obwohl ich wieder eine Jogginghose trage.
Auf dem Weg nach draußen will ich die Arbeitszimmertür schließen. Er kommt mir entgegen und will seine Kaffeepause mit mir verbringen.