Literareon

»Jawlensky, mon amour«

Diese prämierte Geschichte von Annelie Kelch wurde im Gewinnerband »kunterbunt« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

annelie kelchDie Autorin

Annelie Kelch lebt in Hamburg, bekommt bald ihre Rente und macht fast täglich ihrer Arthrose den Garaus, indem sie meilenweit läuft und dabei oft die Gedichte des Johannes Bobrowski auswendig lernt, die streckenweise so schön sind, dass man allein für sie leben und natürlich auch sterben möchte.

Geleitwort der Jury

Wir könnten uns keine Welt ohne Farben vorstellen – oder haben wir uns schon längst daran gewöhnt? Wie wäre es, in einer grauen Welt zu leben? In einer Welt, in der jegliche Farbe aus dem Leben der Menschen entfernt wurde? Könnten wir dort leben? Wir laufen oft Gefahr, alles gleich zu gestalten: Unseren Alltag, unseren Stil, unsere Lebensweise. Da tut Abwechslung not. Verleihen wir also unserem Leben mehr Farbe.

Schon Pippi Langstrumpf fühlte sich in der Villa Kunterbunt wohl. Und kunterbunt treibt es nun auch unser Kurzgeschichtenwettbewerb: kunterbunt wie die Träume eines Raben; kunterbunt wie die Sorgen eines Frosches; kunterbunt wie die Farben eines Gemäldes, die Farben der Liebe, des Glücks; kunterbunt wie die Klänge der Musik. Ja, der literarische Wind wehte viele bunte Beiträge zu unserer Verlagstür herein. Aus der Fülle dieser Beiträge konnten wir uns kaum für die Gewinner entscheiden; so viele Geschichten waren inspirierend und beeindruckend. Manche dieser kurzen Storys verzauberten uns aber ganz besonders, ließen uns in kunterbunte Welten eintauchen.

Mit dem vorliegenden Buch wollen wir dieses Gefühl auch an unsere Leserinnen und Leser weitergeben. Entfliehen Sie der tristen, grauen Alltagswelt und bekennen Sie Farbe!

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Jawlensky, mon amour

Mein erster Urlaub, der Sinn macht, dachte ich frohgelaunt, während ich beschwingten Schrittes dem Kloster zustrebte, in dessen Gewölben mein Malkurs stattfinden sollte. All die Jahre zuvor war ich nach Sommerreisen extrem gebräunt an meinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, und hätte man mich damals mit einem Grillhähnchen verglichen, wäre dem bedauernswerten Vogel vornehme Blässe bescheinigt worden. Allerdings fühlte ich mich bei jeder Heimkehr seltsam unausgefüllt und wollte diesen Zustand unbedingt beenden; aber dass bereits mein nächster Urlaub eine gravierende Veränderung bringen sollte, damit hatte ich nicht gerechnet. Während des Besuchs einer Gemäldeausstellung in unserem Heimatmuseum verliebte ich mich in die Werke expressionistischer Maler und beschloss auf dem Nachhauseweg, mein restliches Leben der Kunst zu widmen.

Unsere Malgruppe bestand aus zwei Herren, sechs Damen und einem weiblichen Teenager. Wir hatten uns im Klosterhof versammelt und harrten der Dinge, die uns glücklich machen sollten. Margarita stach mir sofort ins Auge. Sie war ein Bild von einer Frau, mit üppigem Haar, das im Licht des ermattenden Spätsommertages leuchtete, als sei das Abendrot darin untergegangen, und ihre goldbraunen Augen sprühten Funken wie das Hauptfeuer eines Leuchtturms. Der Kursleiter, ein Mann um die vierzig, begrüßte uns mit warmen Worten und stellte sich mit »Alwin Meister« vor. Wir gaben unsere Namen preis, und nachdem Margarita an der Reihe gewesen war, kicherte Teenie Paula: »Der Meister und Margarita, optimalo.«

»Sie haben Bulgakow gelesen, Kindchen?«, zweifelte Hertha, eine resolute Dame mit barocken Formen.

»Angefangen«, sagte Paula, »abgemackertes Gedöns, dieser Schinken.«

Es war mehr als offensichtlich, dass Margaritas Anblick dem Meister die Rede verschlug. Er konnte seine Augen kaum von ihr abwenden und ich rätselte die ganze Zeit herum, weshalb Jeff, ein deutlich jüngerer, gutaussehender Mann, sie keines Blickes würdigte.

402px Alexej von Jawlensky Mystischer Kopf Sphinx 1917»Wir wollen uns in diesem Seminar den facettenreichen Farben unserer Landschaften zuwenden«, stammelte Meister. Sein Blick schweifte zu Margarita hinüber, verfing sich in deren prächtigem Haar und blieb darin hängen. »Zu diesem Zweck hat uns die Städtische Galerie in München ein Gemälde des Künstlers Alexej von Jawlensky zur Verfügung gestellt«, fuhr Meister mit verklärter Miene fort. »Es trägt den Titel Sommerabend in Murnau. Wir werden Jawlenskys vortreffliches Kunstwerk in den Räumen dieses wunderschönen Klosters interpretieren, weil es draußen Schaden nehmen könnte.«

»Blaue Berge, grüne Täler, mittendrin zwei Tannen, klein«, trällerte Paula am nächsten Morgen, nachdem Alwin – wir duzten uns alle nach mehreren Schoppen Rebensaft – Jawlenskys Schöpfung auf eine Staffelei gehoben hatte. Paulas geringschätzige Bemerkungen wie »abgezopfter Rührschinken« und »schlampenpampig hingeätzt«, gingen in den »Ahs« und »Ohs« der anderen unter.

»Nicht allein van Gogh hat den Maler inspiriert, sondern auch Matisse«, schwärmte Alwin. »Das zeigt uns der Verzicht auf räumliche Perspektive und die generöse Flächenaufteilung.« Sein verzückter Blick glitt über Margaritas atemberaubende Kurven.

»Verzicht nennt der das, generös, hah!«, motzte Paula; aber auch meine Begeisterung für das hochgelobte Kunstwerk hielt sich in Grenzen, wenngleich die Farben durch kaum zu toppende Wärme und Leuchtkraft bestachen. Ich führte die Enttäuschung, die beim Anblick des berühmten Gemäldes von mir Besitz ergriffen hatte, auf meinen noch ungeschulten Kunstverstand zurück; außerdem wusste ich nicht, was Jawlensky sonst noch in petto hielt und war zu jenem Zeitpunkt auch nicht sonderlich gespannt darauf.

Wir saßen im Refektorium. Die Vormittagssonne ergoss sich durch bodentiefe Fensterscheiben und fühlte uns und Jawlenskys Schöpfung mächtig auf den Zahn. Ich war entsetzlich müde, und Aug in Aug mit einem »der besten Gemälde dieser Welt«, wie Alwin mehrfach betonte, sah ich mich in die Trotzphase eines Kleinkinds zurückversetzt, die Paula vermutlich noch nicht überwunden hatte. Während sie dem nächtlichen, von Alwin gesponserten Klosterwein in des Klostergartens lauschiger Laube in einer Weise zugesprochen hatte, die uns glauben machte, sie saufe sich tagtäglich ins Koma, hatten zwei klitzekleine Gläser ausgereicht, mich lebensuntauglich zu machen. Ich war als Erste in meiner Klosterzelle eingeschlafen und kurze Zeit später, der Mond verharrte alleweil prall am Himmelszelt, mit rasendem Kopfweh aufgewacht.

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Alwin bat uns, die Landschaften unserer Heimatorte im Stile Jawlenskys aufs Papier zu zaubern und beauftragte Hertha, das wertvolle Kunstwerk im Auge zu behalten, er habe Wichtiges zu erledigen. Ich vertiefte mich in das Eierschalenweiß meines Zeichenkartons und als ich irgendwann wieder aufsah, waren nicht nur »der Meister« und Margarita, sondern auch Paula und Jawlenkys »Sommerabend« verschwunden. Ich blickte zu Hertha hinüber, die mit Jeff schwadronierte, aber noch ehe ich begriff, was geschehen war, tauchte Alwin auf – mit verwuscheltem Haarschopf und irrem Blick. Seine Hose war nachlässig am Bauchgewölbe verankert, die Schnalle seines Hüftriemens klapperte geräuschvoll über die Fliesen des Refektoriums. Er deutete auf die leere Staffelei und brüllte: »Wo! – Wo ist Jawlenskys Sommerabend?« Seine Blicke erdolchten Hertha, deren verstörte Miene den Verdacht aufkommen ließ, sie wolle sich augenblicklich aufs Rad flechten.

»Ruf die Polizei, Alwin«, sagte Jeff. »Wir suchen derweil die Gegend ab.« Hertha und ich rasten in den Park, bogen jeden Busch auseinander und fanden in der Tiefe eines Stachelbeerstrauchs einen Blechkasten mit Pornos. Ich winkte ab, als Hertha den Fund konfiszieren wollte. Wozu den Mönchen die Freude verderben.

523px Alexej Jawlensky Schokko with Red Hat 1909Während der Vernehmung durch einen Kriminalbeamten erfuhren wir, dass der schöne Jeff ebenfalls getürmt war. Alwin brach unter der Last seines Gewissens in Tränen aus und gestand, dass ihn Margarita mit verheißungsvollen Worten zu einem Stelldichein in den Park gelockt habe. Just in dem Moment, als es am Schönsten gewesen sei, habe sie ihn von sich gestoßen und sei davongerannt. Der Kommissar konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen.

Letzte Woche entdeckte ich in unserem Tageblatt die Konterfeis eines international gesuchten, auf Kunstraub spezialisierten Gaunertrios. Die Gesichter erinnerten mich lebhaft an Margarita, Jeff und Paula. Bundespolizisten hatten Andrej und Jekaterina Smirnow samt Tochter Natalia nahe der polnischen Grenze aufgegriffen. In ihrem Gepäck befand sich der »Sommerabend in Murnau« – ein echter Jawlensky.

Mir kann’s egal sein. Das farbenfrohe Gemälde hängt eh in meinem Appartement – neben all den anderen Jawlenskys. Einige sind von den Originalwerken kaum zu unterscheiden. Er lässt sich fantastisch abkupfern. Allerdings dauert es ein Weilchen, bis der Farbton stimmt. Jawlensky war ein Farbenfetischist par excellence; aber stellen Sie sich unsere Welt doch nur mal in Schwarzweiß vor. – Mega ödig, oder?

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