»Ich bin bei dir«
Diese Geschichte von Norbert Rattinger wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »Zauber« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.
Der Autor
Norbert Rattinger ist Lehrer und unterrichtet an einer Münchner Grundschule. Zum Schreiben kam er über das Entwickeln von Computerspielen in seiner Jugend. Nach seinem Referendariat fand er Zeit, sich in seiner Freizeit dem Schreiben zu widmen. Gerade arbeitet er an seinem ersten Roman – der Adaption eines früheren Computerspiels mit einem märchenhaften Fantasy-/Sci-Fi-Setting.
Geleitwort der Jury
Das Wort »Zauber« mag ein einfaches, kurzes sein. Und doch können sich ganze Welten dahinter verbergen. So überrascht es kaum, dass die Beiträge, die uns für unseren Kurzgeschichtenwettbewerb zu dieser Thematik erreichten, so breit gefächert sind wie selten zuvor.
Wie jedes Jahr waren viele Geschichten dabei, die uns berührt haben und die uns zum Schmunzeln oder auch zum Nachdenken gebracht haben. Dies spiegelt sich auch in der Auswahl, die wir Ihnen, lieber Leser, mit diesem Buch an die Hand geben möchten wider:
Die Geschichten sind mal lustig, mal tragisch; ihre Helden mal verzweifelt, mal tapfer. Große Zauberer treten auf, aber auch die Menschen, die in der Lage sind, unser tägliches Leben um magische Momente zu bereichern. Der Zauber erscheint als Macht, die uns voneinander trennen oder uns verbinden kann und die uns vor allem immer wieder staunen lässt.
Also lassen Sie sich – wie es auch uns ergangen ist – von den folgenden magischen Begebenheiten in ihren Bann ziehen.
Ich bin bei dir
Es war Susannes größte Angst.
Sie sperrte sie hinter Gittern, wie es sich für ein rasendes, irrationales Biest gehörte, aber die Pranken der Bestie fuhren einfach zwischen den Gitterstäben hindurch und zerschnitten ihr Herz. Nicht einmal Roland wusste von der Bestie, aber mittlerweile glaubte sie, dass auch er genau dieselbe Angst gehabt haben musste. Hielt nicht jedes Paar zwei Teile dieses Tiers, das gefräßiger wurde, je mehr man zusammenwuchs?
Sprachen Paare darüber? »Nein«, dachte Susanne. »Und es nährt sich genau von diesem Ignorantentum!« Ihre Angst mit jemandem zu teilen, hielt sie damals für eine unkluge Idee. Sie auszusprechen, würde böse Geister rufen.
Als wäre das Biest nicht schon genug …
Als die Angst noch klein war, hatte Susanne sie für ein harmloses Schreckgespenst gehalten. Eine schwarze Katze, die nur bei Nacht erschien und die nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters gekommen war und seitdem in ihrem Herzen Sorgen an den Schwänzen herbeizog wie Mäuse. Es war das flaue Gefühl, das einen glauben lässt, dass sich hinter jeder Ecke ein Monster versteckt, das nur darauf wartet, in einem Augenblick der Unachtsamkeit zuzuschlagen und einen vom Angesicht der Welt zu tilgen. Und letzten Endes war es doch genau so gewesen. Ihr Monster hatte Roland verschlungen und es dick, fett und wild gemacht.
Die Verlobung war neun Monate her. Roland hatte in einem Hotelzimmer um ihre Hand angehalten und sie hatte »ja« gesagt. Danach hatten sie aus einer Laune heraus und mit nichts mehr als Helium im Kopf einen Spaziergang gemacht: Um ein Uhr nachts, unter einem klaren Sternenzelt und zwei Stunden, bevor sie sich mit Nachtgedanken gefüllten Köpfen ins Bett jagten und die fremden Laken mit heißem Schweiß benetzten.
Es folgte eine fünfmonatige Periode des Blindflugs. Susanne stürzte sich sofort in die Hochzeitsvorbereitungen, während Roland sich auf das neue Schuljahr vorbereitete. Mit jedem Haken, den sie auf ihrer Liste setzen konnte, wuchs die Katze, bis sie schließlich eines Nachts schweißgebadet aufwachte, gebissen von dem verdammten Miststück, und Traum nicht mehr von Realität unterscheiden konnte. Sie hatte geträumt, dass Roland gestorben war und sie alleine zurückgelassen hatte.
Roland schlief ruhig neben ihr, laut atmend, unbekümmert. Er hatte Susannes verkniffenen Schrei nicht gehört. Das Bild ihres zukünftigen Mannes in dieser privatesten aller Situationen brannte sich ein. Das merkte Susanne erst viel später bei der Beerdigung. Nie war der Mensch verletzlicher als im Schlaf und vielleicht schlug deswegen der Tod genau dann so gerne zu! Das Alter spielte dabei keine große Rolle. Ihr Vater war mit 45 gestorben, gerade als er begonnen hatte, in seinen prächtigsten Farben aufzublühen. Seit seinem Tod war Susannes Mutter ergraut.
Roland starb bei einem Autounfall. Nicht im Schlaf, nicht friedlich. Dafür musste er nicht lange leiden. Das Monster hatte ihn in einem Happen verschlungen, noch bevor der gute Zauber des gemeinsamen Schwurs das Biest vielleicht vertrieben hätte.
Die Hochzeitsvorbereitungen rückgängig zu machen, war nicht sonderlich schwierig gewesen. Susannes Mutter half ihr dabei, mit all den Erfahrungen, die sie bei der Organisation der Trauerfeier ihres Mannes gemacht hatte. Der Schock über Rolands gewaltsamen Tod saß tief. Alle Gäste – Wegbegleiter, Freunde, Familie – erschienen statt in bunten Farben in einheitlich unfarbiger Garderobe und manche unterstützten Susanne und Rolands Familie bei den Angelegenheiten, die mit einem plötzlichen Tod einhergingen.
Danach wurde es still und selbst gute Freunde begannen, sich von Susanne zu distanzieren. Die Katze war zu einem pechschwarzen Löwen mit gelben Augen geworden, der nach allen Händen biss, die ihm gereicht wurden. Susannes Mutter musste zusehen, wie sich ihre Tochter einem Wahn ergab.
Susanne versuchte, Roland gewaltsam am Leben zu halten. Dafür stoppte sie ihre innere Uhr und machte ihre gemeinsame Wohnung zu einer Art Voodoo-Schrein. Sie trug seine Sachen, saugte das Aroma in den Fasern auf wie Weihrauch und stellte ihr Dasein in den Dienst einer versessenen Götzenanbetung. Der Ring mit dem winzigen Brillant, den er ihr geschenkt hatte, machte sie zu ihrem heiligsten Relikt.
Ihre Mutter und eine gute Psychiaterin brachten Susanne schließlich ab vom Dornenweg der heißen Tränen und körperlosen Schmerzen. Sie lernte, über ihre Ängste zu sprechen, und nahm der Bestie so die Nahrung. Sie schrumpfte, bis sie schließlich eines Tages in ihrem Käfig verkümmerte wie eine abgestorbene Nabelschnur.
Mit ihren Freunden kehrte auch Farbe in ihr Leben zurück. Der graue Himmel färbte sich blau. Susanne flog aus ihrem vereinsamten Nest mit geheilten Flügen. Sich ihre Kraft auf den langen Flügen einzuteilen, hatte sie sofort verstanden. Der erste Stopp war ihr Elternhaus. Dort konnten beide Frauen ihre Trauer teilen.
Das alles hatte sie hierhergeführt.
Das alles hatte sie durchgemacht, um noch einmal diese Magie zu spüren. Ohne dass Tränen kamen, die den Zauber wegspülten wie Regen.
Susanne war zurückgekehrt an den Ort, wo sie und Roland sich verlobt hatten. Ihre Mutter hatte ihr von dieser Idee abgeraten, aber Susanne hatte sich durchgesetzt. Sie lehnte sich gegen den morschen Holzzaun und atmete die laue Mailuft ein. Sie spürte Rolands Anwesenheit, spürte ihn in der warmen Brise, die ihr um die Nase strich.
Hier hätten sie Hochzeit gefeiert. Sie hätten den Bierlikör serviert, den es nur in dem Hotel gab, in dem sie sich verlobt hatten. Hier gab es eine beschauliche, ländliche Idylle und eine Kirche, wie nur Altbayern sie besaß. Das Feuerwerk wäre der Höhepunkt der Feier gewesen.
Bunte Blumen, die in der schwarzen Sternenwiese wuchsen und nur für den Augenblick blühten.
Plötzlich hörte Susanne ein Zischen wie von einem überhitzten Motor und das Bild, das sie sich von Rolands Autounfall gezeichnet hatte, verdrängte die ruhige Stille und drohte, sie zu erdrücken.
Doch dann begannen sie zu wachsen. Blumen aus Licht auf schwarzem Hintergrund.
Jemand veranstaltete über ihrem Kopf ein Feuerwerk. Heiße Funken aus Metallstaub zerstoben in der Nacht.
Susanne war voller perplexer Freude. Sie weinte. So hatte sie es sich vorgestellt, es sich für Roland gewünscht. Ein zauberhafter Moment für die Ewigkeit.
»Ich werde dich niemals alleine lassen«, flüsterte ihr Roland ins Ohr. »Und keine Sorge. Um deinen kleinen Freund mit den scharfen Krallen habe ich mich gekümmert.«
»Ich bin bei dir.«