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»Die bittere Wahrheit«

Diese Geschichte von Finja Schön wurde mit dem 1. Preis ausgezeichnet und im Gewinnerband »Ferien« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

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Die Autorin

Finja Schön ist 16 Jahre alt und besucht das Gymnasium. In ihrer Freizeit spielt sie gerne Tennis, arbeitet in einem Eiscafé und schreibt Kurzgeschichten. Mit diesem Beitrag nimmt sie zum ersten Mal an einem Wettbewerb teil.

Geleitwort der Jury

Ferien: Intuitiv denken wir an die Sommerferien während der Schulzeit, deren sechs Wochen sich meist wie ein halbes Jahr anfühlen, an Baggersee und Grillen oder an einen Strandurlaub in Italien.

Doch jeder verknüpft mit dem Begriff etwas anderes. Wie weit die Spanne reicht, zeigt sich in den uns zahlreich zugesandten Beiträgen: schöne Geschichten über spannende Erlebnisse, unterhaltsame Gedanken zu verborgenen Zusammenhängen und erschütternde Berichte bitterer Realität.

Die prämierten Beiträge zeichnen sich durch Witz und Stil aus, beleuchten detailliert und anschaulich unbeachtete Aspekte des Wettbewerbsthemas oder schaffen es durch Abstraktion und Intuition neue Blickwinkel in den Köpfen der Leser zu etablieren. Das Verlieren der kindlichen Unschuld, die (Ver-)Planung des Urlaubs, die unbändige Vorfreude auf die anstehende Reise, Mord und Totschlag oder einfach nur die Erinnerung an die Sommerferien der Kindheit – alle Beiträge besitzen ihren eigenen Charme, ihre gedankenreiche, im Subtext enthaltene Aussage.
Lassen Sie sich mitreißen und machen Sie – zumindest gedanklich – Ferien.

Die bittere Wahrheit

Ich sitze mit meinen Eltern und meinen drei Schwestern vor unserer kleinen Hütte. Es ist Nachmittag und die Sonne brennt vom Himmel. Wir unterhalten uns und ich erzähle von meinen Erlebnissen in der Schule. Meine Eltern haben lange gespart, um mich zur Schule schicken zu können, für meine Schwestern reichte das Geld nicht. Manchmal bringe ich ihnen etwas bei, doch meistens bleibt dafür keine Zeit, denn ich muss neben der Schule auch noch meinen Eltern zur Hand gehen, vor allem meiner Mutter, die nun zum vierten Mal schwanger ist. Gerade streichelt mein Vater den runden Bauch meiner Mutter und lacht, als wir aus der Ferne Schreie und Rufe hören. Man munkelt, es gebe bewaffnete Gruppen, die umherziehen, Dörfer niederbrennen und ganze Familien abschlachten. Mein Vater weist uns an, uns im Haus zu verstecken und abzuwarten. Wenige Minuten später kommen die panischen Schreie und der unverwechselbare Geruch von Rauch immer näher. Ich bete zu meinen Göttern, doch die Männer kommen auch in unser Haus. Mein Vater steht in der Tür und verwehrt ihnen den Zutritt, aber die Männer lachen nur und schießen ihn nieder. Meiner Mutter schreit auf und läuft aus ihrem Versteck. Sie wird vergewaltigt und kurz darauf schneidet man ihr mit einem Messer die Kehle durch. Meinen Schwestern ergeht es ähnlich. Amina versucht zu fliehen und wird erschossen, Aicha wird weggebracht, ich erfuhr jedoch nie wohin und Natalia, deren Versteck man nicht gefunden hatte, verbrennt in unserer kleinen Hütte.
Schweißgebadet fahre ich hoch. Es war ein Traum, eine immer wiederkehrende Erinnerung, an einen Tag vor ungefähr einem Jahr. An den Tag, an dem ich mein Zuhause, meine Familie und mich selbst verlor. Mich nahm man mit, ich überlebte, wenn man das hier ein Leben nennen kann. Ich bin hier, um zu kämpfen, um das Land zu schützen, ich bin hier, um zu töten. Ich war zwölf, als man mich und viele andere Jungen aus meinem Dorf mitnahm, verschleppte und ausbildete.

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Ich erinnere mich noch genau an den Tag, den Augenblick, in dem ich mich selbst verriet, in dem ich meine Seele verlor. Es war der Augenblick, an dem ich den ich zum ersten Mal tötete. Ich schließe meine Augen und versuche, die schrecklichen Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen, doch sie spielen sich immer und immer wieder ab, wie ein ewiger Teufelskreis.
Ich sehe ihn im Schlamm liegen, seine braune Haut glänzt in der Sonne, er weint und seine Augen sind vor Angst geweitet. Wer sich weigert zu töten, wird getötet. In jenem Moment stand ich vor der schwersten Entscheidung meines Lebens: töten oder getötet werden. Der Junge vor mir war in meinem Alter, ich kannte ihn, wir waren gemeinsam in eine Klasse gegangen. Ich hob das Messer, denn ich hatte mich entschieden. Für mein Leben. Der Junge erkannte, dass ich meine Entscheidung getroffen hatte, und kniete sich hin. Er blickte mich an und ich sah ihm in die Augen, die nun, im Angesicht des Todes, mit Stolz und Verachtung gefüllt waren. In diesem Moment dachte ich nicht viel nach, ich schaltete einfach alles ab und stieß zu. Das Messer mitten in seine kindliche Brust. Während er langsam zu Boden sackte, zischte er mir etwas zu. Dieses Wort traf mich mit voller Wucht, denn es war die Wahrheit: Feigling!
Noch heute spukt mir dieses Wort im Kopf herum: Feigling, Feigling, Feigling.
Es stimmt, ich war zu feige, zu feige, das Richtige zu tun, zu feige, um zu sterben. Und ich bin es immer noch.

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»Aufstehen!,«, brüllt einer der Aufseher und alle schrecken auf. Ein Fetzen Brot und ein Becher dreckiges Wasser dienen uns als Frühstück, dann sollen wir uns bereit machen für den Hinterhalt. Gestern wurde genau besprochen, wie wir die feindlichen Truppen in den Hinterhalt locken und sie besiegen können. Jetzt ist es soweit. Ich halte meine Kalaschnikow in der rechten Hand und laufe hinter den anderen her. Wir alle starren mit leerem Blick auf unseren Vordermann und gehorchen. Bedingungsloses Gehorchen ist überlebenswichtig. Ich nehme nichts wahr, mein Blick ist leer, genau wie der der anderen. Unsere Persönlichkeit und das, was uns ausmacht, haben wir schon vor langer Zeit verloren.
Das einzige, was unser Leben prägt, sind Schmerz, Einsamkeit und Selbstverachtung. Bei vielen sind die Gefühle und Empfindungen jedoch schon so sehr abgestumpft, dass es nur noch Leere gibt, nichts als Leere.
Wir gehen auf Position und halten uns bereit, bis der Anführer uns das Signal zum Schießen gibt.
Vielleicht werde ich gleich sterben und das alles hier hat ein Ende. Vielleicht wäre es besser so. Doch noch immer existiert ganz tief in mir drinnen ein winziger Funken Hoffnung, irgendwann zu entkommen und mein altes Leben hinter mir zu lassen, einfach alles zu vergessen und neu anzufangen. Das ist der einzige Grund, weshalb ich mein Leben noch nicht selbst beendet habe. Hoffnung. Doch mein Verstand sagt mir, was ich längst schon weiß: »Das wird nie passieren.«
Das Signal ertönt und ich schließe die Augen.

»Kristin, jetzt hör endlich auf zu schreiben und komm zum Abendessen und wir wollen uns gleich gemeinsam den Film anschauen!«, ruft die Mutter die Treppe hoch.
»Oh Mama, es sind doch Ferien! Aber okay, ich komme gleich, ich schreib nur schnell zu Ende«, ruft die Tochter zurück und tippt die letzten Wörter.

Ich lasse mein Gewehr fallen und tue endlich das Richtige. Ich habe mich nun endgültig entschieden. Eine neuartige Welle von Hoffnung macht sich in mir breit und ich denke an meine Familie, der ich nun bald gegenübertreten kann.
Es ist nie zu spät, das Richtige zu tun!
Ich lächele, mich übermannt ein unbändiges Gefühl von Freude und Stolz und Glück.
Ich bin kein Feigling!

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