Literareon

»Der weiße Kai«

Diese Geschichte von Rainer Rupp wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »Ferien« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

RainerRuppDer Autor

Rainer Rupp wurde 1963 geboren und absolvierte nach dem Abitur das Studium der Germanistik sowie der Philosophie in Heidelberg. Seit 2012 verfasst der Werbetexter »ernsthafte« Prosatexte, vornehmlich Kurzgeschichten. Die Liebe zur deutschen Sprache – im besten Fall auch bei anderen – zu vertiefen, ist ihm ein Herzensanliegen.

Weitere Infos zum Autor finden Sie auf seiner Website.

Geleitwort der Jury

Ferien: Intuitiv denken wir an die Sommerferien während der Schulzeit, deren sechs Wochen sich meist wie ein halbes Jahr anfühlen, an Baggersee und Grillen oder an einen Strandurlaub in Italien.

Doch jeder verknüpft mit dem Begriff etwas anderes. Wie weit die Spanne reicht, zeigt sich in den uns zahlreich zugesandten Beiträgen: schöne Geschichten über spannende Erlebnisse, unterhaltsame Gedanken zu verborgenen Zusammenhängen und erschütternde Berichte bitterer Realität.

Die prämierten Beiträge zeichnen sich durch Witz und Stil aus, beleuchten detailliert und anschaulich unbeachtete Aspekte des Wettbewerbsthemas oder schaffen es durch Abstraktion und Intuition neue Blickwinkel in den Köpfen der Leser zu etablieren. Das Verlieren der kindlichen Unschuld, die (Ver-)Planung des Urlaubs, die unbändige Vorfreude auf die anstehende Reise, Mord und Totschlag oder einfach nur die Erinnerung an die Sommerferien der Kindheit – alle Beiträge besitzen ihren eigenen Charme, ihre gedankenreiche, im Subtext enthaltene Aussage.
Lassen Sie sich mitreißen und machen Sie – zumindest gedanklich – Ferien.

Der weiße Kai

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Am ersten Tag war Kai noch so weiß, dass eine Friedenstaube unbemerkt hätte auf ihm landen können. Man vermochte ihn am weißen Sandstrand kaum auszumachen, nur die Badehose verriet ihn. Kai saß auf seinem Strandtuch und cremte sich in einem aufwändigen Prozedere sorgfältig mit Sonnenmilch Schutzfaktor 50 ein. Dann schnappte er sich Flossen, Unterwasserkamera und Schnorchelmaske. Mittlerweile war er ein geübter Schnorchler: Spucke in die Maske, ausspülen, Flossen im Wasser sitzend anziehen und los. Natürlich rechnete er nicht damit, im Meer vor Rhodos irgendetwas Aufregendes zu sehen, vielmehr genoss er die Stille unter Wasser. Ein bisschen abtauchen und ruhig über die abgestorbenen Korallen hinweg gleiten – darum ging es ihm. Das Meer wirkte wie ein leerer Kühlschrank. Man müsste mal saubermachen, die Plastikflaschen und Damenbinden herausfiltern und die Unterwasserwelt neu bestücken. Kai träumte von einer bunten Artenvielfalt, von Tintenfischen, Zackenbarschen und Muränen, aber nichts davon tauchte vor ihm auf. Was sollte man hier auch sehen, in einem leer gefressenen Kühlschrank? Trotzdem hatte er seine Unterwasserkamera dabei. Vielleicht gab es ja ganz hinten in den tiefsten Tiefen des Kühlschranks noch einen einzelnen Kalmar zu entdecken, der klug genug war, sich im Verborgenen zu halten. So wie man in einem Kühlschrank manchmal in der hintersten Ecke noch ein Stück Wurst findet, das bereits die nächste Evolutionsstufe erreicht hat und zu einer unbekannten Lebensform mutiert ist. Nein, es gab nichts zu sehen – ein paar Seeigel und Quallen, weiter vorne ein Schwarm Sardinen.

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Immer wenn man in den Ferien das erste Mal schnorchelt, kommt einem der Gedanke, man könnte einem Hai begegnen. Der Puls steigt auf 130, die Flossenbewegungen hören für einen Moment auf, aber dann verwirft man den Gedanken wieder. Was sollte ein Hai auch in einem leer gefressenen Kühlschrank? Die Arme dicht am Körper bewegte sich Kai nur mit der Scherenbewegung seiner Flossen fort, als sich plötzlich das rechte Gesichtsfeld verdunkelte. »Muss eine Wolke sein, die unter der Sonne durchzieht«, Kai drehte den Kopf, dem Schatten folgend. Sofort fing er an zu schreien, trotz Schnorchelknebel, Wasser schoss ein, die Kamera glitt ihm aus der Hand, sein Schließmuskel versagte und der Puls schnellte von 75 auf gefühlte 240 Schläge. 240 Schläge in der Minute, das sind vier Schläge pro Sekunde. Ab 16 Schlägen wäre für den Menschen ein konkreter Ton hörbar. Aber für den großen Weißen, von dem Kai gerade rechts überholt wurde, war vielleicht sogar dieser Vier-Hertz-Ton wahrnehmbar. Kai fing an zu hyperventilieren. »Ein großer Weißer« – mehr konnte er nicht denken, sein Gehirn schaltete auf Überlebensmodus und war damit beschäftigt, Adrenalin, Dopamin und was sonst noch alles zur Verfügung stand, in Überdosen auszuschütten. Unter Wasser sieht zwar alles um etwa ein Drittel größer aus, aber das da war ein wirklicher Koloss. Der hatte seine fünf bis sechs Meter! Eine gewaltige Tötungsmaschine, die sich da direkt neben Kai durchs Wasser arbeitete. Gnadenlos, lautlos, schnell. Schon war der Hai verschwunden, ohne von Kai überhaupt Notiz genommen zu haben. Durch Zappeln und panische Kraulbewegungen erreichte Kai wieder die gerade verlassene Korallenbank, an der er sich das Knie aufritzte, bevor er schließlich im seichten Wasser zu sitzen kam. Erst Minuten später, nachdem er das Sauerstoffdefizit überwunden hatte, realisierte er den Schaden am Knie: »Um Gottes willen, das Blut wird ihn anlocken, er wird zurückkommen!« Kai streckte das lädierte Bein hoch in die Luft, was den Gästen am Strand wohl einen Anblick außerordentlicher Grazie beschert haben muss. Er befreite sich mit letzter Kraft von den Flossen, die er einfach im Meer treiben ließ und entstieg schließlich Poseidons Reich in einem vollkommen desaströsen Zustand: die Maske schräg auf dem Gesicht, eine Kontaktlinse war hinters Auge gerutscht, das Knie blutend, in seiner Lunge mindestens zwei Liter Salzwasser, die Badehose gefüllt mit Exkrementen. Der Anti- James Bond stapfte an Land, aber Kai wollte momentan etwas ganz anderes, als eine Halle Berry beeindrucken. »Ich habe überlebt, ich habe überlebt«, krächzte er leise. Trotzdem versuchte er, sich auf dem Weg quer über den Strand nichts anmerken zu lassen. Er schaffte es sogar, die Frage eines Strandelefanten zu beantworten: »Na, was gesehen?« »Ach, nicht der Rede wert, nur ein großer Weißer!« Müdes Gelächter von der benachbarten Strandliege, wo Wulstlippen nach einem Strohhalm schnappten – ein Gin schlürfender Riesenlippfisch. Herr Jesus! Wäre er am Strand geblieben, Kai hätte eine Fülle an Seemonstern beobachten können – ganz gefahrlos und bequem.

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Der Hotelarzt wies Kai an, für den Rest des Urlaubs nicht mehr ins Wasser zu gehen. Kai ließ das Abendessen ausfallen, verzichtete auf gegrillte Meeresfrüchte und kämpfte sich durch eine unruhige Nacht. Im Traum wurde er von einem Riesenlippfisch verfolgt, der ihm immer wieder sein ständig nachwachsendes Bein abbiss. Denkwürdige Dialoge beim Frühstück – mit Blick auf Kais Knieverband: »Was ha’mer denn heut’ Nacht getrieben?« »Ach nix, is’ mir gestern im Meer passiert, ein Haibiss!« Hahaha! Kai humpelte zum Buffet, um sich zwei Toasts, ein Omelette und noch eine Portion Mitleid abzuholen. Das tat gut. Ab jetzt verbrachte er die Tage am Pool, zwischen mächtigen Hausfrauen und anderen Sehenswürdigkeiten. Ab und zu streckte er das unversehrte Bein ins Chlorwasser. Durch die verspiegelte Sonnenbrille hindurch las er im Tauchermagazin etwas über das Jagdverhalten des weißen Hais und dass derselbe auch im Mittelmeer anzutreffen sei, bisweilen. »Ein Druckfehler, es muss ›bissweilen‹ heißen«, murmelte Kai. Er schlürfte den Rest aus seinem Hai-Pirinha-Glas, ließ noch einmal das gestrige Hailight des Tages Revue passieren und beobachtete eine Hausfrau, die im Pool ganz konzentriert ihre Fünf- Meter-Bahnen zog, als sich ihm der Gedanke aufdrängte, dass es vielleicht doch eine Seekuh gewesen sein könnte, die ihn gestern fast gerammt hätte. Kai sah auf seine bleichen Unterarme. Es war bestimmt ein großer Weißer, der ihn nur deshalb verschont hatte, weil er in Kai einen Artgenossen erkannte. So muss es gewesen sein. Entspannt beobachtete Kai die kreischenden Kinder, die mit einem grimmig dreinschauenden Gummihai plantschten. Dann gab er dem Boy an der Poolbar ein Zeichen, sein leeres Kai-Pirinha-Glas hochhaltend und mit dem Zeigefinger der anderen Hand darauf deutend. Die internationale Gebärdensprache versteht man überall auf der Welt. Ach herrlich! Die Ferien hatten begonnen.

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