»Der Spiegel der Seele«
Diese Geschichte von Irene Wallner wurde im Gewinnerband »Spiegel« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.
Die Autorin
Irene Wallner studierte Geschichte und das Lehramt Geschichte/Deutsch/Ethik. Sie verfasst seit einiger Zeit eigene Texte, v. a. Kurzgeschichten, von denen bereits drei in Sammelbänden als E-book erschienen sind. Großes Interesse hat sie an Tieren und vegetarischer/veganer Ernährung.
Geleitwort der Jury
Dutzende Redewendungen, Wörter und Floskeln in der deutschen Sprache enthalten das Wort »Spiegel«, spielen mit seinen charakteristischen, reflektierenden Eigenschaften und schreiben ihm tausendfach magische Eigenschaften zu. Die böse Königin befragt in Schneewittchen den Spiegel, Harry Potter erblickt im Spiegel Nerhegeb, seinen sehnlichsten Herzenswunsch, Untote ohne Seele können ihr Spiegelbild nicht sehen. Widerspiegeln, spiegelbildlich, jemandem den Spiegel vorhalten, das Nachrichtenmagazin »Spiegel«.
Der Spiegel zeigt sich sprachlich in vielfältigem Kleid und bietet eine reiche Auswahl an Assoziationsmöglichkeiten. Und so dient er nun also als neues Thema für den Kurzgeschichtenwettbewerb des Literareon Verlags. Viele Autoren sind unserem Aufruf gefolgt, haben sich den Spiegel vorgehalten, tief in ihren schillernden Gedanken-Trickkisten gekramt und mit weniger als eintausend Wörtern Wahres, Erdachtes und Fabelhaftes zu Papier gebracht. Die Geschichten umfassen Schreckensbilder von sich und anderen, die erst durch das mit Silber oder Gold beschichtete Glas ans Licht gebracht werden. Vor manchen Protagonisten muss man den Spiegel verstecken, andere verstecken sich selbst vor ihm, und manchmal führt das Spiegelbild gar ein Eigenleben. Die Autoren zeigen uns Spiegel mit fast menschlichen Zügen, die grausam, erbarmungslos, mild und verzeihend sein können – je nachdem, wer sie zurate zieht.
So verschieden die Texte auch sind, eines haben sie gemeinsam: Immer geht es ein wenig darum, sich selbst zu finden. Denn was ist der Blick in den Spiegel anderes als die Suche nach dem eigenen Ich?
Der Spiegel der Seele
Ein Blick, nur ein kurzer Blick und du erfährst mehr über dich, als dir vielleicht lieb ist. Eigentlich ist nichts dabei. Einfach nur die Augen öffnen und sehen, wie die Wirklichkeit ist. Sehen, was man oftmals nicht sehen will. Es ist nur ein Blick in den Spiegel, doch für Hannah ist es mehr als nur das. Sie ist verunsichert und innerlich aufgewühlt. Hannah steht in ihrem Zimmer, das Herz pocht so schnell, als würde es gleich aus ihrer Brust springen. Nervös spielt sie mit ihren Fingern an einer Haarsträhne. Vor was hat sie Angst? Was glaubt sie im Spiegel zu sehen? Hannah wusste es nicht genau. Sie wusste nur, dass der Spiegel ihr die Wahrheit zeigen würde – und ob sie dafür bereit war, konnte Hannah nicht sagen. Die ungeschmückte Wahrheit, so, wie es nun einmal war, ohne Schutz, ohne Tarnung – es war ein Blick in ihre Seele.
Jeder hatte doch so seine Geheimnisse, aber seit diesem einen Tag vor genau einer Woche hatte sie ein Geheimnis, dass wohl nicht jeder hatte. Hannah fühlte sich schlecht und der Blick in den Spiegel war ihr unmöglich. Sie konnte sich nicht selbst in die Augen sehen, weil sie sich dann eingestehen hätte müssen, dass sie einen Fehler gemacht hat – einen großen Fehler. Niemand wusste davon, aber sich selbst konnte Hannah nichts vormachen. Egal, wie sehr sie es vermied, ihr Spiegelbild zu betrachten, die Schuld bahnte sich langsam aber sicher einen Weg aus ihrem Innersten und irgendwann würde sie durchbrechen wie eine eitrige Wunde – doch bis dahin hatte sie schon ihren Körper vergiftet. Hannah wusste, dass sie sich den Konsequenzen stellen musste. Sie wusste, dass nur sie selbst sich die Last von der Seele nehmen konnte, aber sie hatte Angst. Lieber würde sie sich nie wieder im Spiegel betrachten können, als diese schreckliche Angst ertragen zu müssen. Vielleicht musste sie ins Gefängnis, vielleicht würde sie alles verlieren. Diese Ungewissheit nagte an ihr wie eine Ratte an ihrer Beute. Immer weiter und weiter, bis nichts mehr übrig geblieben war – solange, bis Hannah nur noch ein Schatten ihrer selbst sein würde.
Sie schüttelte den Kopf so fest sie konnte. Nein, das war kein Leben, sie konnte damit nicht länger umgehen. Ihr langes Haar flog wild um ihren Kopf und sie bemerkte, wie sie mit jedem Schütteln ihres Kopfes ein bisschen klarer sehen konnte. Die Angst hatte ihre Sinne vernebelt. Wie ein dichter Schleier lag sie auf ihren Gedanken, Gefühlen und auf ihrer Seele. Hannah hatte gemerkt, wie sie langsam von der Dunkelheit verschlungen wurde und sich nie wieder als die Frau wahrnehmen hätte können, die sie war – eine hübsche, liebevolle, junge Frau mit Talenten und kleinen Macken. Genau dieser Frau wollte Hannah wieder in die Augen sehen können. Sie wollte sich selbst wieder lächeln sehen und damit ihre Seele heilen.
Hannah atmete tief durch und mit jedem Atemzug entwich ein kleiner Hauch der Angst, die sie die letzten Tage gelähmt hatte. Sie fühlte sich bereit, die Augen zu öffnen und sah auf die Wand vor sich. Sie war einfach weiß, sonst nichts. Eine tiefe weiße Masse, die sich immer weiter ausbreitete, je länger sie darauf schaute. Wie ein Meer aus weißen Wellen, die es schaffen konnten, die Angst hinweg zu spülen und sie von ihrer Last zu befreien. Hannahs Finger zitterten noch immer, aber jetzt spürte sie, dass sie bereit war. Auf drei würde sie sich umdrehen.
Eins …
Hannah betrachtete noch einmal die Wand und stellte sich vor, wie das Glück und die Freude alle Dunkelheit in den tiefen Abgrund zurückschickt, aus dem sie gekommen war. Tief hinunter und verschlossen durch einen Schutz, der aus ihr selbst kommen wird, wenn sie es schafft sich umzudrehen.
Zwei …
Die Aufregung wurde stärker, doch sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Sie konnte das, sie würde es schaffen und sich ihrer Angst stellen. Erst dann konnte sie wieder ein normales Leben führen.
Drei …
Mit einem schnellen Ruck drehte sich Hannah um. Die Augen hatte sie vorher weit aufgerissen, damit sie diese nicht doch noch im letzten Moment wieder schloss. Nun stand sie da und sah sich das erste Mal seit diesem Tag ins Gesicht. Sie hatte erwartet, ein Monster zu sehen, denn nur ein Monster fuhr einfach weiter und kümmerte sich nicht um das Auto im Straßengraben. Es war ihr einfach zu spät aufgefallen und sie hatte nicht gewusst, wie sie mit eventuell verletzten Personen umgehen sollte. Schon an diesem Abend hatte sie die Angst fest im Griff.
Zu ihrer Überraschung sah Hannah aber eine junge Frau, der zwar die Spuren der letzten schlaflosen Nächte im Gesicht standen, die aber sonst so perfekt war wie sie war. Einen Fehler konnte jeder machen und sie würde auch dazu stehen.
Langsam verzog sie ihre Lippen zu einem Lächeln und je mehr sie das tat, desto schöner strahlten ihre Augen und nach einigen Minuten, die sie sich so im Spiegel betrachtet hatte, war Hannah wieder der Mensch, der sie noch vor einer Woche gewesen war.
Sie nahm das Telefon zur Hand und wählte die Nummer der Polizei. Die Angst war verschwunden und aus diesem tiefen Loch würde Hannah sie nie wieder herauslassen.