Literareon

»Stilles Beben«

Diese Geschichte von Ursula Wehrer wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »Beben« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

Die Autorin

Ursula Wehrer wurde am 22.7.1978 geboren. Sie arbeitet als Deutschlehrerin in Australien und verarbeitet ihre Erlebnisse in Down Under in ihren Geschichten. Verheiratet mit einem Neuseeländer, gehören kulturelle Missverständnisse zum Alltag, die immer wieder für neue Inspirationen sorgen.

Das Gleitwort der Jury

Ein Erdbeben zu erleben, zu spüren, wie der Boden ringsherum erzittert, und mitanzusehen, wie selbst die stabilsten Gebäude ins Wanken geraten, ist eine ebenso erschreckende wie zutiefst beeindruckende Erfahrung. Die geballte Kraft der Natur, die sich in diesem Moment entlädt, ihre Zerstörungswut und ihr Potential, ganze Städte und Landstriche in wenigen Augenblicken für immer zu verändern, hat Schriftsteller seit jeher fasziniert. So etwa diente das verheerende Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 Literaten wie Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich von Kleist dazu, in ihren Werken über die Willkür der Natur zu reflektieren und darüber, wie Gott zulassen konnte, dass zahllose unschuldige Menschen durch dieses Unglück ihr Leben verloren.

Doch mit dem Wort »Beben« lassen sich nicht nur schreckliche Naturkatastrophen verbinden, sondern auch starke Emotionen und körperliche Empfindungen. So etwa kann der unerwartete Verlust eines geliebten Menschen unser Innerstes zutiefst erschüttern und unsere Welt regelrecht aus den Angeln heben, während etwa der heißersehnte Heiratsantrag des Traumpartners unser Herz zum Beben bringt und uns von Kopf bis Fuß mit wohligen Schauern des Glücks überzieht.

Die eingesandten Kurzgeschichten zum Wettbewerbsthema »Beben« spannen ein breites Spektrum von Momenten auf, die uns erschüttern und nach denen nichts mehr so ist, wie es war. Dabei richtet sich der Blick auch auf die Unkontrollierbarkeit und Plötzlichkeit, mit der solche Ereignisse über uns hereinbrechen und uns in einen Zustand der Ohnmacht, aber auch der ekstatischen Verzückung versetzten können.

Und so kam unserem Team die beinah seismografische Aufgabe zu, unter den zahlreichen Einsendungen die mitreißendsten, erschütterndsten, aber auch die gefühlvollsten Geschichten auszusuchen und für Sie zusammenzustellen.

Wir freuen uns, Ihnen in diesem Band eine Auswahl dieser Kurzgeschichten präsentieren zu dürfen, und hoffen, dass sie Ihr Leserherz zum Beben bringen.

 

Ihre Jury

 

»Stilles Beben«

Mit konstanten 70 Stundenkilometern zogen Manfred und Renate Dietrich mit einem gemieteten und für zwei Personen völlig überdimensionierten Wohnmobil durch die neuseeländische Landschaft. Seit dem Frühstück, Spiegeleier mit Schinken auf Toast, gab es weder nennenswerte Vorkommnisse noch Konversationen. Dies sollte sich allerdings ändern, als sich das pensionierte Ehepaar einem Straßenschild näherte.

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„Gib mir doch mal meine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach”, bat Manfred seine Frau, um nur Sekunden später noch ein „Oh, hast du das Schild gesehen? Wie viele Kilometer sind das nochmal nach Nelson?“ hinzuzufügen.
„Hab ich nicht gesehen.“
„Renate, du musst schon ein bisschen mitgucken, ich fahr hier schließlich auf der linken Seite der Straße. Ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern.”
„Ja, ich dachte nur, ich sollte dir deine Sonnenbrille geben.“
„Ja aber doch nicht, wenn wir auf ein Schild zufahren.”
„Ich werd‘ das nächste Mal besser aufpassen.”
„Ist ja schon gut, ich mein ja nur.” Für einen Moment war es still zwischen den beiden, allerdings setzte Manfred leicht genervt, man könnte schon fast sagen aggressiv hinzu: „Wie weit ist es denn nun nach Nelson?”
„Wir haben doch noch den ganzen Tag Zeit.”
„Das ist doch keine Antwort auf meine Frage.”
„Ich weiß es nicht, Manfred.”
„Warum habe ich denn eine Beifahrerin.”
„Entschuldige.”
„Renate, ich hab‘s dir gesagt, die neuseeländischen Straßen sind nicht so wie die unsrigen. Alles so schmal und kurvig. Da kann man nicht so brettern wie in Deutschland. Da muss man schon ein bisschen planen. Und das Wetter, unberechenbar, sag ich dir.”

Schweigend fuhren die beiden in dem mobilen Ungetüm weiter und die Landschaft zog unkommentiert an ihnen vorüber. Nach einer Weile drehte Renate das Radio auf.

Ein für Renate etwas zu lautes, aber begeistertes „Ah, so ein Zufall. Das ist Tony Murell von Kiwi Living” entkam ihr und dabei drehte sie das Radio ein bisschen lauter. Sie hatte bereits in ihrem alternativen Reiseführer über die beliebte Gartensendung gelesen. Der kauzige Moderator sprach gerade über die Bekämpfung von Blattläusen. Seine liebevolle Beschreibung der unerwünschten Tierchen und alternativen Möglichkeiten, um ihnen Herr zu werden, brachte Renate zum Schmunzeln.

Manfred schnaufte, erst gemäßigt monoton, dann unregelmäßig und unüberhörbar. Als Renate ihn dann immer noch ignorierte, schaltete er das Radio abrupt aus.

„Ich kann mich überhaupt nicht auf die Straße konzentrieren. Wie weit ist es denn jetzt noch nach Nelson?”, fragte er seine Frau mit gehetzter Stimme.
„Weiß ich nicht”, gab sie gleichgültig von sich.
„Aha … Hab ich mir schon gedacht.”

Schweigend fuhren sie auf der schmalen Landstraße weiter, bis Manfred plötzlich einen Gegenstand auf der Straße sah und langsam darauf zufuhr. Circa 20 Meter davor erkannte er, dass es sich lediglich um einen großen Ast handelte, und brachte den Camper zum Stehen.

„Hast du das gesehen?”
„Ja, hab ich. Ich sehe es.”
„Ach ja? Na dann …!” Manfred blickte seine Frau auffordernd an.
„Bitte?”, sah sie ihren Mann ungläubig an.
„Na komm schon, so groß ist der auch wieder nicht. Ich hab schließlich keine festen Schuhe an.” Und zeigte auf seine Füße. Weiße Tennissocken in Birkenstocksandalen.
„Na gut.” Tief schnaufend stieg Renate aus und knallte die Beifahrertür etwas lauter als gewollt zu. Renate zog den Ast ins Gebüsch, als plötzlich der Boden unter ihren Füßen zu wanken begann und dann heftig bebte. Ein Erdbeben! Renate legte sich intuitiv flach auf den Boden und hielt sich die Arme über den Kopf und in weniger als einer Minute war alles vorüber. Vereinzelt krachten Äste im umliegenden Wald herunter. Renate rappelte sich wieder langsam auf und sah durch den aufgewühlten Staub einen großen Riss im Asphalt der Straße zwischen ihr und dem Camper.

Manfred stieg mit weit aufgerissenen Augen aus und schnappte nach Luft. Er ging wenige Schritte auf den Riss zu und drehte sich dann dem Wohnmobil zu.

„Renate, jetzt sieh dir das an, da … der Vorderreifen! Platt. Ist alles ok bei dir?”
„Ja, ich glaube schon.”
„Mensch, das hat ganz schön rums gemacht. Ob die Versicherung das übernimmt?”, sagte er, ganz dem Reifen zugewandt.
„Ach Manfred … “
„Was? Wir müssen sie wenigstens jetzt gleich informieren. Die müssen uns hier rausholen.“
„Ja, das ist vielleicht das Beste.”
„Wo ist denn das Handy?”
„Ich glaube im Handschuhfach.”
„Renate, kannst du den Autoverleih anrufen?”
„Ach …“
„Ich muss doch das Wohnmobil inspizieren.”
„Ja, verstehe schon. Am besten wirfst du das Handy in meiner Handtasche rüber. Dann kann es nicht kaputtgehen. Ich komm hier ja nicht drüber.“ Und deutete dabei auf die aufgerissene Erde vor ihr.
„Das ist eine gute Idee, du kannst ja nicht so gut fangen.”
„Genau, am besten wickelst du es noch in meine Jacke ein.”
„Gute Idee!”

Manfred wühlte im Handschuhfach nach dem Handy und verpackte es in Renates roter Regenjacke und wurschtelte alles in die praktische Handtasche, die sie immer auf Reisen mitnahm. Wie ein ungeschickter Diskuswerfer streckte sich Manfred halb im Kreis und wuchtete die Tasche auf die andere Seite. Renate nahm das Handy heraus und tippte ein wenig darauf rum.

„Oh du, ich hab hier gar keinen Empfang.“
„Ja dann, geh doch ein bisschen weiter, vielleicht geht’s da hinten besser.”
„Sehr gute Idee.” Und damit ging Renate weiter die Landstraße entlang. Nach circa 50 Metern formte Manfred einen Trichter mit seinen Händen, hielt ihn an seinen Mund und schrie so laut er nur konnte: „Renate. Geht‘s jetzt schon?”

Ohne auf das Handy zu blicken, drehte sich Renate kurz um und schüttelte nur mit dem Kopf. Wenig später hörte sie ihren Mann wieder rufen.

„Und jetzt? Renate? Hörst du mich?“


Wieder drehte sich kurz um, zuckte mit den Schultern und ging einfach weiter.

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