Literareon

»Levi fängt sich selber auf«

Diese Geschichte von Michelle Faßbender wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »doppelter Boden« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

Die Autorin

Michelle Faßbender hat 2014 irgendwie ihre Ausbildung zur Mediendesignerin abgeschlossen. Das hat ihr so gut gefallen, dass sie 2017 eine Ausbildung zur Erzieherin begonnen hat. Derzeit befindet sie sich im Anerkennungsjahr (also dem letzten Jahr der Ausbildung) und hofft, dieses erfolgreich zu beenden. Leider hat sie in ihrem Leben bisher nichts sonderlich Interessantes oder Spannendes getan, weshalb diese Kurzbiografie besonders kurz ist.

Geleitwort der Jury

Ein herausnehmbarer Einsatz in einer Truhe oder eine lose Diele im Fußboden können als ideales Versteck für all das dienen, was man vor seinen Mitmenschen verbergen will: Für intime Tagebücher oder für die Liebesbriefe eines heimlichen Verehrers, für Waffen, Rauschmittel oder Diebesgut – unter den doppelten Böden dieser Welt dürften tausende und abertausende unentdeckte Schätze und Geheimnisse schlummern. Während es für den unwissenden Betrachter kaum wahrnehmbar ist, kann ein solches Geheimfach für den Eingeweihten Sicherheit und Privatheit bedeuten, es kann Ort des Rückzugs und der Geborgenheit sein, ein willkommenes Versteck bei einer Verfolgungsjagd und vielleicht sogar eine Tür zu einer anderen Welt.

Im übertragenen Sinne können aber auch unsere Worte, Aussagen und Kunstwerke doppeldeutig sein und einen zweiten Inhalt, eine verhüllte alternative Bedeutung in sich verbergen. Marcel Reich-Ranicki, der wohl bedeutendste Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts, hat gute Literatur einmal mit einem Schmuggler-Koffer verglichen: Wie dieser verfüge sie über einen doppelten Boden, in dem sich eine auf den ersten Blick nicht erkennbare versteckte Bedeutung transportieren lässt. Der Leser wiederum könne sich mit dem offensichtlichen Inhalt des Textes begnügen – oder nach dem Hintersinn des Textes suchen und verborgene Schätze entdecken.

Die eingesandten Kurzgeschichten zum Wettbewerbsthema »doppelter Boden« entwerfen ein breites Spektrum von Szenen, in denen unauffällige Hohlräume, geheime Fächer und doppelte Böden den Menschen Zuflucht bieten, ihnen Halt im Leben geben und ihre Geheimnisse bewahren. Doch die Geschichten zeigen auch, dass diese Sicherheit mitunter trügerisch sein, der doppelte Boden zur Falltür und das Versteck zum Verhängnis werden kann. Dabei überraschen die Geschichten selbst immer wieder mit Doppeldeutigkeiten und unerwarteten Wendungen, die den Leser dazu herausfordern, über die tiefere Bedeutung des Textes zu reflektieren und das Offensichtliche zu hinterfragen.

Und so kam unserem Team die Aufgabe zu, unter so manchen doppelten Boden zu blicken und unter den zahlreichen Einsendungen die erschütterndsten, gefühlvollsten, aber auch die doppelbödigsten Geschichten auszusuchen und für Sie zusammenzustellen.

Wir freuen uns, Ihnen in diesem Band eine Auswahl dieser Kurzgeschichten präsentieren zu dürfen, und wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre.

Ihre Jury

 

Levi fängt sich selber auf

Es war ein Donnerstag. Ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, aber das ist ja eigentlich auch ganz schön. Levis Blick klebte an einem Vogel, der mit ein paar kraftvollen Flügelschlägen vom Boden zu einem Baum flog und sich dort auf einem dicken Ast niederließ. »Also ich bin sicher, dass das nur eine Phase ist«, meinte der Doktor, natürlich zu Levis Mutter, da war sich Levi sehr sicher, denn er fühlte sich bei Arztgesprächen eigentlich nie gemeint, am liebsten würde er gleich zu Hause bleiben und die Erwachsenen ihren Kram unter sich klären lassen. »Meinen Sie wirklich, Herr Doktor? Er ist doch nun schon elf! In dem Alter habe ich den ganzen Tag lang nichts anderes gemacht.« Der Doktor schaute noch einmal in die blaue Patientenmappe, überflog ein paar Seiten. »Er ist völlig gesund. Guter Körperbau, starke Muskulatur, gute Spannweite … kerngesund, sage ich Ihnen! Wenn, dann ist das ganze eher psychosomatisch.« – »Psycho?!«, rief Levis Mutter erschrocken. »Frau Winzer, auch das lässt sich behandeln«, sagte der Doktor und wandte sich nun zu Levi. »Junger Mann. Gibt es irgendetwas, das dich zurzeit bedrückt?« Levi merkte, dass der Doktor sich große Mühe gab, sehr verständnisvoll zu wirken, so wie seine Mutter es manchmal versuchte, wenn sie dachte, dass Levi irgendwas angestellt habe, wobei Levi eigentlich noch nie irgendwas angestellt hatte. »Nö«, sagte Levi. »Hm«, sagte der Doktor. Mutter sah den Doktor sehr erwartungsvoll an. »Warum möchtest du denn nicht fliegen, Levi? Hast du Schmerzen?« – Levi überlegte. »Nö«, sagte Levi. »Weißt du nicht mehr, wie es geht, Levi?«, fragte seine Mutter. Aber Levi wusste, wie man fliegt, darum sagte er »Nö«. Nun war wieder der Doktor mit fragen dran. »Hast du … Angst vorm Fliegen?« Nun wurde Levi ganz still, weil er da etwas länger drüber nachdenken wollte. »Oh, herrje!«, erschrak nun seine Mutter. »Ja, so etwas habe ich mir schon gedacht!«, meinte der Doktor, wobei sich Levi sicher war, er hätte sich das eigentlich nicht schon gedacht. »Oh, Herr Doktor! Das ist doch ganz furchtbar. Levi, mein Schatz, wieso hast du mir denn nie davon erzählt? Du weißt doch, dass du mit mir immer über alles reden kannst!«, Mutter schien den Tränen nahe. »Nun«, der Doktor räusperte sich. »Am besten hilft da eigentlich nur das berühmte Aus-dem-Nest-schubsen!« Mutter sah ihn erschrocken an, oder aber sie sah ihn einfach nur an, Mutter neigte zur Dramatik, sie sah deshalb meistens erschrocken aus. »Aus welchem Nest denn?«, fragte Levi. »Naja, nur im übertragenen Sinne, natürlich. Wir können dich ja nicht wirklich aus einem Nest schubsen. Nein, nein! Wir schubsen dich vom Dach. Kommen Sie, Frau Winzer, Levi! Wir gehen gleich nach oben!« Levi war nicht gerade begeistert.

Levi auf dem Dach

Oben auf dem Dach angekommen, sprach der Doktor: »Levi, komm her. Stell dich bitte hierher an den Rand.« Levi zögerte. »Nun komm schon, Junge, hab keine Angst!« Levi trat näher, blickte über den Rand und musste schwer schlucken. Mensch, war das hoch! Sehr hoch! »Herr Doktor«, sagte Levi mit zitternder Stimme, »ich … glaube nicht, dass ich springen kann.« Der Doktor trat etwas näher zu ihm heran. »Das verstehe ich. Aber weißt du, Levi, du musst ja gar nicht springen. Ich schubse dich einfach.« Und noch bevor Levi irgendetwas sagen oder tun konnte (wie zum Beispiel weglaufen), schubste ihn der Doktor vom Dach hinunter. Frau Winzer stieß einen erschrockenen Schrei aus. Dann wurde es sehr still. Die beiden Erwachsenen warfen sich besorgte Blicke zu. Der Doktor lehnte sich etwas über den Rand und rief: »Levi, mein Junge, ist alles in Ordnung?« – »Aua«, jammerte Levi zurück. Der Doktor und Levis Mutter flogen schnell hinunter zu Levi. Dieser hatte sich schwer verletzt. Sein rechter Arm war gebrochen und sein linker Flügel war ganz verdreht. Noch am selben Tag wurde er an beidem operiert. Jedoch war sein Flügel so geschädigt worden, dass er nicht mehr fliegen konnte. Seine Mutter weinte bitterliche, besorgte Mama-Tränen, sorgte sich um das Leben ihres Sohnes, der vielleicht niemals in der Lage sein würde zu fliegen. Levi jedoch schien unbesorgt. Vielleicht, weil er das ganze Ausmaß noch nicht verstand, oder aber, weil er so vermutlich nie wieder von irgendwelchen Erwachsenen von irgendwelchen Dächern hinuntergeschubst werden würde. Von nun an war niemand mehr verwundert oder ärgerlich darüber, dass Levi lieber zu Fuß zur Schule ging, als zu fliegen. Er musste sich nicht mehr streiten oder rechtfertigen und war damit eigentlich ganz zufrieden.