Literareon

»Der Arbeiter und das Feuer«

Diese Geschichte von Léa Maria Fritz wurde von der Jury ausgewählt und im Gewinnerband »Feuer gefangen« unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbes abgedruckt. Wir veröffentlichen sie hier in voller Länge.

Die Autorin

Léa Maria Fritz wurde 2001 in Frankfurt am Main geboren, wo sie auch heute noch lebt. Derzeit studiert sie Politikwissenschaft und Philosophie. In ihrer Freizeit liest sie sehr gerne, vor allem die klassische Literatur hat es ihr angetan, schreibt Prosatexte und schaut Dokumentationen. Ihr größter Traum ist es, ein eigenes Buch zu schreiben.

Geleitwort der Jury

Feuer spendet Wärme und Leben. In der griechischen Mythologie brachte Prometheus den Menschen das Feuer, war Urheber der menschlichen Zivilisation. Feuer kann aber auch Tod und Zerstörung bedeuten. Einmal unachtsam entfacht, breitet es sich wütend aus, mit oft verheerenden Folgen. – Im Herzen entfacht, wird ein Mensch wiederum Feuer und Flamme für eine leidenschaftliche Sache sein, für die er wirklich brennt. Und entzündet sich das Feuer für ein geliebtes Wesen, muss sich erst zeigen, ob es sich dabei um ein Strohfeuer oder um eine olympische Fackel handelt. Sie sehen, es sprüht und funkt nur so vor Assoziationen zu diesem Begriff. Und so wundert es nicht, dass auch die Teilnehmer unseres Kurzgeschichtenwettbewerbs die unterschiedlichsten Interpretationen zum Thema hatten. Es fiel uns daher besonders schwer, unter den zahlreichen Einsendungen die Gewinnergeschichten auszuwählen. Wir hatten also, um die Flamme der Wortspiele nun so richtig hochzüngeln zu lassen, wirklich viele Eisen im Feuer. Aber worauf es am Ende ankommt: Das Ergebnis dieser schwierigen Auswahl ist wirklich lesenswert. Dafür würden wir glatt unsere Hand ins Feuer legen.

Ihre Jury

Der Arbeiter und das Feuer

Er geht durch die große, zu einem Bogen geformte Eingangstür der Fabrik. Seit 25 Jahren tut er dies und jedes Mal bekommt er das Gefühl, als würde er durch jedes Eintreten einen Teil von sich verlieren. Jeden Tag gibt er ein Stück von sich an der Eingangstür ab. Er geht die Treppen hinauf in die Umkleidekabine. Dort sieht er dieselben Gesichter derselben Menschen, die er seit Jahren fast jeden Tag sieht. Er kennt ihre Namen nicht, sie kennen seinen Namen nicht. Ein Name ist ein Teil der Identität jedes Menschen. Ohne Namen ist niemand vollständig menschlich. Nein, hier braucht er keinen Namen. Er ist ein Arbeiter, wie alle in der Umkleidekabine und alle im zweiten Stock. Alle sind dort Arbeiter und nehmen ihre Namen nicht mit in die Fabrik.

Mann geht in Fabrik

Der Arbeiter stellt sich an das Fließband und fängt an, dieselben Bewegungen wie jeden Tag auch zu machen. Den Arm hebt er ein wenig an, drückt auf einen Knopf, setzt den Arm wieder ab und wenige Sekunden später fängt er von vorne an. Wenn sein Arm wehtut, wechselt er ihn. Früher erleichterte es ihn, wenn er die Anstrengung aus seinem Arm verschwinden spürte, nachdem er wechselte. Heute spannt ihn selbst das an. Aber es interessiert ihn auch nicht mehr, was er da tut. Es interessiert niemanden. Niemanden der anderen Arbeiter, niemanden der Vorgesetzten, nein, auch die Menschen außerhalb der Fabrik interessiert es nicht. Wie sie an der Fabrik vorbeilaufen, kurz schauen und dann weitergehen, als würde dort drinnen kein Leben vorhanden sein. Irgendwie ist es auch so. Niemand sieht sie, sie sehen sich gegenseitig nicht.

Es geht seit zwei Wochen das Gerücht um, es würden neue Maschinen kommen, die seine Arbeit ersetzen würden. Als er das Gerücht zum ersten Mal hörte, spürte er nichts. In der Fabrik fühlt man nicht. Doch heute bekommt er bei dem Gedanken daran Herzklopfen, zitternde Hände, ihm schießen sogar Tränen in die Augen. Er kann sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so etwas fühlte, wann er überhaupt wirklich so stark gefühlt hat. Als er nach unten auf seinen ausruhenden Arm blickt, bemerkt er plötzlich eine Flamme direkt an seinem Zeigefinger. Als sie erlischt, sagt er sich, es müsse Einbildung sein. Er fühlt sich müde. Zu Hause wird er sich hinlegen. Als er ein paar Minuten später seinen Arm wechselt, bemerkt er wieder eine Flamme an seinem Finger. Er sieht das Feuer, wie es tanzt, so sorglos, so gefährlich, doch er spürt es nicht. Seltsamerweise stört es ihn nicht. Seine Gedanken sind bei den neuen Maschinen. Er hat sein Leben, seine Existenz in die Hände der Firma gegeben und nun würden sie ihn rausschmeißen. Ganz bald werden sie dies tun.

Als er wieder wütend wird, bemerkt er, dass die Flamme immer größer wird. Müsste er nicht Schmerzen haben? Er versteckt seine Hand und läuft in einen anderen Raum, in dem sich ein Waschbecken befindet. Er lässt das Wasser über seinen Finger laufen, doch es tut sich nichts. Die Flamme erlischt nicht. Ungläubig nimmt er seine andere Hand und fasst in die Flamme, doch er spürt nichts. Ist er ein Monster? Er denkt wieder an die neuen Maschinen und wird so unfassbar wütend. Dann bemerkt er, dass die Flamme immer größer, immer mächtiger wird. Wenn er die Fabrik nicht verlässt, wird sie vielleicht in Flammen aufgehen, so wie er. Er hat sein Leben in der Fabrik verbracht, er hat sich geopfert und niemand hat sich je bedankt. Er kann nicht aufhören, daran zu denken. Soll er gehen?

Er fühlt sich wie ein defektes Gerät, welches man ersetzt, sobald ein neues und besseres auf dem Markt ist. Er ist eine Arbeitsware, die unbrauchbar ist, ein Etwas, ein Ding. Bei diesem Gedanken wird er wütender als je zuvor. Ein wütender Mensch brennt aber nicht. Doch er ist schon lange kein Mensch mehr. Die Flamme weitet sich aus, sein ganzer Körper hat Feuer gefangen. Er läuft aus dem Raum hinaus und spürt die entsetzten Blicke, hört die Schreie, doch versteht kein Wort. Er will sich sein Menschsein zurückholen und wenn dies der einzige Weg ist, dann muss er wohl all das, was passieren wird, in Kauf nehmen. Er spürt, wie er in eine Löschdecke gewickelt wird und wie er sich aus dieser befreit. Es funktioniert nicht, das werden die anderen merken. Er läuft zu seinem Arbeitsplatz und denkt an die erschrockenen Gesichter seiner Kollegen. Doch als er eintritt, merkt er, dass all seine Kollegen, die die gleiche Arbeit verrichten, alle, die ersetzt werden würden, auch brennen. Sie haben Feuer gefangen, so wie er. Sie sagen nichts, doch er weiß, dass sie wütend sind, so wie er. Sie starren sich an und dann, als hätten sie es abgesprochen, stürzen sie sich auf die Geräte in dem Raum, sie laufen an die Wände und die Türen und setzen alles in Flammen. Sie setzen alles in Brand, sie zerstören alles und es fühlt sich gerecht an. All das ist unmenschlich, doch sie fühlen sich zum ersten Mal wieder menschlich. Das Feuer des Lebens gehört ihnen und sie können nun all das auslöschen, was sie all die Jahre getötet hat. Der Arbeiter läuft nun aus dem Raum in Richtung Eingang. Die anderen Mitarbeiter des Gebäudes haben sich wohl schon retten können. Er läuft auf die Tür zu und berührt diese und setzt sie nach und nach in Brand. Er holt sich das zurück, was er all die Jahre abgeben musste. Er geht durch die Tür und schaut, wie ihre ganze Fassade in Brand steht und wie auch er immer mehr Feuer fängt. Er weiß nicht, ob er sterben wird oder ob die Flammen jemals verschwinden werden. Er weiß nur, dass er endlich ein Mensch sein kann.

Brennende Fabrik